Corona

»Kein fatales Szenario«

Falls er noch einmal geschlossen werden muss, dann bitte smart: der Carmel-Markt in Tel Aviv Foto: Flash 90

Als er vor einer Woche am Sonntagmorgen aufwachte, erlebte Michael Levitt seinen ersten Shitstorm auf Twitter. »Es hagelte Kritik«, sagt der Nobelpreisträger und Professor für Biophysik an der Stanford University im Telefongespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. Stunden zuvor hatte er in dem Kurznachrichtendienst seine Forschungsresultate publiziert, wonach die Wachstumskurve von Covid-19 nicht exponentiell verlaufe.

Die rigorosen Maßnahmen im Kampf gegen Corona seien nicht nur gefährlich – sondern sie seien unnötig. »Die Analyse der vorliegenden Daten«, sagt er, »liefert keine Bestätigung für ein fatales Szenario« – vor allem dort nicht, wo auf soziale Distanzierung geachtet wird.

Als »Verlierer« bezeichnet Levitt Länder wie Österreich oder Israel.

Levitt, gebürtiger Südafrikaner mit amerikanischem, britischem und israelischem Pass, untersuchte als einer der Ersten die Fallzahlen in China, einem Land, zu dem er eine besondere Beziehung hat und in dem er sich bestens auskennt. Seine Frau ist Expertin für chinesische Kunst und Kuratorin für lokale Fotoausstellungen. Das Paar teilt seine Zeit zwischen China, Israel und den USA auf.

PROGNOSE Als Levitt die Corona-Statistik der Volksrepublik analysierte, fiel ihm auf, dass die Wachstumsrate der Corona-Toten nicht exponentiell verlief. Die Zahl der Opfer stieg Ende Januar und Anfang Februar zwar kontinuierlich an, aber die Wachstumsrate flachte ab. »Dieses Phänomen war wichtiger als die absolute Zahl.«

Denn es war ein Zeichen dafür, dass sich die Kurve zum Vorteil der Menschen verändert. Es sei wie bei einem Autorennen, meint er. Auch wenn der Wagen beschleunigt, beschleunigt er irgendwann weniger schnell als beim Start.

Sollte Corona erneut zuschlagen, empfiehlt Levitt einen »smarten Lockdown«.

Deshalb, sagte er am 1. Februar voraus, werde in China die Zahl der Toten bald Tag für Tag abnehmen. Drei Wochen später gab er gegenüber der Zeitung »China Daily News« zu Protokoll, dass die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus die Spitze erreicht habe. Eine Prognose, die sich später als recht adäquat herausstellte.

STATISTIK Was er bei seinen Untersuchungen der chinesischen Corona-Statistik erkannt hatte, bestätigte sich auch in europäischen Ländern. »In den Orten und Regionen, die es hart getroffen hat, ist der Anteil der Toten an der Gesamtbevölkerung stets ähnlich hoch.« Er betrage rund 0,2 Prozent.

Aber lag Levitt mit seiner Prognose der Corona-Toten in Israel nicht völlig daneben? Mitte März hatte Levitt in einem Interview gesagt, er wäre überrascht, wenn es in Israel mehr als zehn Opfer gäbe. Inzwischen sind es aber über 250. Levitt relativiert: Mit seiner Prognose sei er näher an der Realität als jene, die damals von Zehntausenden oder sogar Hunderttausenden Opfern gesprochen haben.

LOCKDOWN Und was, wenn jene recht haben, die vor einer zweiten Corona-Welle warnen? Levitt will eine neue Attacke nicht ausschließen, hält sie aber für unwahrscheinlich. Sollte es indessen so weit kommen, warnt er vor radikalen Maßnahmen, mit denen die meisten Länder bisher der Epidemie begegneten. »Das war ein großer Fehler«, ist er überzeugt, »weil der Preis sehr hoch ist. Eines Tages werden wir feststellen, dass der durch den Lockdown angerichtete Schaden um ein Mehrfaches höher ist als die Menschenleben, die dadurch gerettet wurden.«

Sollte Corona erneut zuschlagen, empfiehlt Levitt einen »smarten Lockdown«. Zum Vorgehen mit Augenmaß gehören seiner Meinung nach vier Maßnahmen:

  • Erstens ist Panikmache zu vermeiden. »Die Medien sollen die Zahl der Toten nicht jeden Tag marktschreierisch auf der ersten Seite verkünden – sie tun das mit Krebstoten ja auch nicht.«
  • Zweitens müsse jeder eine Gesichtsmaske tragen, um den Speichel zurückzuhalten, damit Tröpfcheninfektionen keine Chance haben. Statt die Wirtschaft eines ganzen Landes stillzulegen, wären lediglich Orte mit einer hohen Ansteckungsgefahr zu schließen. »Dazu gehören zum Beispiel Pubs, weil man dort laut sprechen muss, um den Lärm zu übertönen.« Große Versammlungen gehörten ebenfalls verboten.
  • Drittens sollte vor dem Betreten von Geschäften oder dem Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel die Körpertemperatur gemessen werden.
  • Viertens müssten an der Supermarktkasse berührungsfreie Zahlungsmittel eingesetzt werden – also keine Kreditkarten, sondern etwa Handy-Apps. Technisch sei das kein Problem: »In China kann man Bettlern eine Spende per App überweisen, ohne Geld in die Hand zu nehmen.«

ÖSTERREICH Am besten stünden jetzt im Fall eines erneuten Corona-Angriffs Länder wie Deutschland oder Schweden da, die beim Shutdown maßvoll vorgegangen seien. »Deshalb sind genügend Menschen krank geworden, um Herdenimmunität zu erreichen.«

Als »Verlierer« bezeichnet Levitt hingegen Länder wie Österreich oder Israel. Sie hätten zwar nicht viele Tote zu beklagen, »aber sie haben sich schwere ökonomische und soziale Schäden zugefügt, ohne Herdenimmunität erlangt zu haben«.

Und was, wenn er sich täuscht? Ein guter Wissenschaftler, sagt Levitt, irre in 90 Prozent der Fälle, ein exzellenter Wissenschaftler aber in 99 Prozent der Fälle – weil er sich eben an die wirklich interessanten Fragen heranwage.

Meinung

Nur scheinbar ausgewogen

Die Berichte der Öffentlich-Rechtlichen über den Nahostkonflikt wie die von Sophie von der Tann sind oft einseitig und befördern ein falsches Bild von Israel

von Sarah Maria Sander  20.04.2025

Aufgegabelt

Mazze-Sandwich-Eis

Rezepte und Leckeres

 18.04.2025

Pro & Contra

Ist ein Handyverbot der richtige Weg?

Tel Aviv verbannt Smartphones aus den Grundschulen. Eine gute Entscheidung? Zwei Meinungen zur Debatte

von Sabine Brandes, Sima Purits  18.04.2025

Literatur

Schon 100 Jahre aktuell: Tucholskys »Zentrale«

Dass jemand einen Text schreibt, der 100 Jahre später noch genauso relevant ist wie zu seiner Entstehungszeit, kommt nicht allzu oft vor

von Christoph Driessen  18.04.2025

Kulturkolumne

Als Maulwurf gegen die Rechthaberitis

Von meinen Pessach-Oster-Vorsätzen

von Maria Ossowski  18.04.2025

Essay

Der verklärte Blick der Deutschen auf Israel

Hierzulande blenden viele Israels Vielfalt und seine Probleme gezielt aus. Das zeigt nicht zuletzt die Kontroverse um die Rede Omri Boehms in Buchenwald

von Zeev Avrahami  18.04.2025

Ausstellung

Das pralle prosaische Leben

Wie Moishe Shagal aus Ljosna bei Witebsk zur Weltmarke Marc Chagall wurde. In Düsseldorf ist das grandiose Frühwerk des Jahrhundertkünstlers zu sehen

von Eugen El  17.04.2025

Sachsenhausen

Gedenken an NS-Zeit: Nachfahren als »Brücke zur Vergangenheit«

Zum Gedenken an die Befreiung des Lagers Sachsenhausen werden noch sechs Überlebende erwartet. Was das für die Erinnerungsarbeit der Zukunft bedeutet

 17.04.2025

Bericht zur Pressefreiheit

Jüdischer Journalisten-Verband kritisiert Reporter ohne Grenzen

Die Reporter ohne Grenzen hatten einen verengten Meinungskorridor bei der Nahost-Berichterstattung in Deutschland beklagt. Daran gibt es nun scharfe Kritik

 17.04.2025