Familientrilogie

Kafka, das Abitur und eine Liebe

Rafael Seligmann als Student beim Israeltag 1977 in der Münchener Fußgängerzone Foto: privat

Mein erster Schultag am Münchenkolleg war der 10. Januar 1969. An diesem Freitag lernte ich meine 21 Mitschüler und unseren Klassenlehrer Franz Stadler kennen. Der Deutschlehrer glich mit seinem runden Gesicht und der entsprechenden Figur einem dicken Musterschüler. Er begrüßte uns in wohlformulierten Sätzen und wünschte uns »Glück und Gelingen auf dem breiten Weg des Erfolgs, der Sie zur Erlangung der Reifeprüfung führen wird«. Die jungen Frauen und Männer, die fortan mit mir lernen würden, machten einen biederen Eindruck. Doch allen war die Entschlossenheit anzusehen, durch das Abi ihrem Leben eine andere Note zu geben.

Herr Stadler lebte in seiner eigenen Welt. Er hieß uns, »Das Urteil«, eine Sammlung von Kurzgeschichten Franz Kafkas, zu erwerben. Sein Deutschunterricht war ausschließlich der Lektüre und Interpretation dieser Erzählungen gewidmet. Der übrige Schulbetrieb und die Funktion des Klassenleiters berührten den Deutschlehrer kaum. Unter der Anleitung Stadlers, der wohl nicht umsonst den Vornamen Franz trug, begann ich, die Erzählungen Kafkas zu begreifen: die Exaktheit und Vielfalt seiner Sprache, das Spiel zwischen vermeintlicher Realität und grenzenloser Fantasie. Ob »Das Urteil«, »Der Landarzt«, »In der Strafkolonie«, »Die Verwandlung«: Jede Geschichte besaß ihre eigene Logik und ihre Unergründlichkeit. Am faszinierendsten fand ich das Stück »Vor dem Gesetz«. Es beschreibt den lebenslangen vergeblichen Versuch des Menschen, zu seinem Recht zu gelangen. Während Stadler referierte, der Jurist Kafka habe sich hier über Recht und Gerechtigkeit ausgelassen, verstand ich, dass der Schriftsteller das Leben als Ganzes im Sinn gehabt hatte. Jeder stand vor der vermeintlich unüberwindlichen Mauer des Daseins und ihren selbst ernannten Wächtern. Unsere Lebensaufgabe war, die vielfältigen Hindernisse zu überwinden, um die Fülle unserer Existenz zu erfahren.

hüter Mit dem Eintritt ins Münchenkolleg war es mir gelungen, die Wächter – Mutter, die Lehrer, die Antisemiten – mitsamt den Hindernissen, die sie mir in den Weg legten, zu überwinden und mich auf den Weg zum Abitur zu begeben, das vom nächsten Wächter verteidigt werden würde. Ich war entschlossen, auch diesen Hüter zu passieren. Kafka lehrte mich, dass sich dahinter der nächste Wall auftürmen würde. Das Dasein war ein unentwegtes Anrennen und Überwinden von Wächtern und Mauern. Wer den Wachmännern Glauben schenkte, würde vor dem ersten Tor Halt machen und sein Lebtag nicht weiterkommen.

Die Wirklichkeit des Münchenkollegs führte uns Wolfgang Lotzki vor Augen. Der Physiklehrer, der stets mit schwarzem Rollkragenpullover und ohne jegliche Unterlagen vor uns trat, sprach Klartext. »Sie unterliegen einem Irrtum, wenn Sie meinen, mit der Aufnahmeprüfung hätten Sie das Abitur bereits in der Tasche. Die Wirklichkeit ist unangenehmer – wie so oft. Formal haben wir fünf Semester, also zweieinhalb Jahre Zeit bis zum Abitur. Das erste Semester dient lediglich der Auffrischung Ihres Mittelschulniveaus, während das letzte allein zur Vorbereitung auf die Reifeprüfung genutzt wird. Damit haben Sie faktisch nur anderthalb Jahre Zeit für die letzten drei Gymnasialjahre, also die Hälfte der Zeit wie an einer Oberschule – wobei die Schüler dort jahrelang trainiert haben.«

Ich redete mir ein, dass mir Englisch, Mathe, Physik oder sogar Latein später nützen konnten.

»Um seinen guten Ruf zu wahren, siebt das Münchenkolleg rigoros aus. Statistisch gesehen wird nur jeder Zweite von Ihnen zur Abiturprüfung zugelassen werden. Wem das gelingt, der schafft den Abschluss in der Regel. Also strengen Sie sich an!« Lotzki war ein lebhafter Mann mit trockenem Humor, der die Fähigkeit besaß, komplexe Sachverhalte einfach zu erklären. Er nahm sich Zeit, jede Frage ausführlich zu beantworten. Die konzentrierte gemeinsame Anstrengung im Müko ließ keinen Raum für die Pflege von Vorurteilen.

Erstmals in Deutschland erlebte ich ein Dasein ohne versteckten oder offenen Antisemitismus. Mein Judentum spielte hier keine Rolle – weder bei den Lehrern noch im Klassenverband. Ich genoss eine unverhoffte Freiheit. Endlich konnte ich meine ständige Schutz- und Angriffshaltung ablegen, mich auf den Lernstoff konzentrieren, offen sein für die Mitschüler, die in unterschiedlichen Berufen gearbeitet hatten. Gemeinsam war uns, dass wir fast alle Kinder von Arbeitern und Kleinbürgern waren. Wir versuchten, den Weg nach oben zu erklettern. Endlich durfte ich mich mit Bereichen auseinandersetzen, die mich interessierten, wie Geschichte, Deutsch, Sozialkunde. Ich redete mir ein, dass mir Englisch, Mathe, Physik oder sogar Latein später nützen konnten. Das Unterrichtstempo war rasant, doch die Lehrer hetzten nicht durch den Stoff, sie versuchten vielmehr, uns Schwieriges nahezubringen. Frau Dr. Haag fasste Geschichte nicht als das Lernen von Jahreszahlen auf. Sie ermutigte uns vielmehr nachzufragen, welche Ziele Staaten und Politiker anstrebten.

Ich besorgte mir in der Stadtbibliothek Bismarcks »Gedanken und Erinnerungen«. Nachdem ich mich an die Sprache des Preußen gewöhnt hatte, machte ich mir seine Argumente zu eigen und vertrat diese im Geschichtsunterricht. Die ältere Historikerin widersprach mir energisch. Die Propaganda, mit der ich in der Mittelschule und meiner Lehre konfrontiert wurde, waren am Müko undenkbar. In Deutsch konnte ich mir Gedanken über Kafka machen. Doch las ich lieber Bismarcks Erinnerungen als »Das Schloss«. Mit gestärktem Selbstwertgefühl besuchte ich wieder die Sinai-Jugendgruppe. Inzwischen waren neue Mitglieder hinzugekommen.

Logik Der Intelligenteste war Jack Schiff. Als Kantor Abraham Hochwald die unfehlbare Logik der Tora hervorhob, fragte ihn Jack, wie sich diese mit Darwins Evolutionslehre und archäologischen Funden vereinbaren ließe. Er sehe hier keinen Widerspruch, entgegnete der Kantor. »Aber ich. Gemäß jüdischem Kalender leben wir im Jahr 5729 nach der Erschaffung der Welt. Die Höhlenzeichnungen von Altamira sind mindestens sechzehntausend Jahre alt. Das ist wissenschaftlich erwiesen. Mit unfehlbaren Messungen mittels Radiokarbon.« »Unfehlbar ist nur die Tora!«, warf Hochwald ein. Mir imponierte Jacks geistige Klarheit und Respektlosigkeit. Bald waren wir unzertrennliche Freunde. Wir diskutierten über die Bibel, Geschichte, Literatur, Politik und vieles andere. Vor allem teilten wir die Sehnsucht nach einer Freundin. Obgleich jünger als ich, verabredete sich Jack mit Rebecca Apfel. Die hochgewachsene Blondine mit den tiefblauen Augen gefiel auch mir, doch Jack hatte eher seine Scheu abgelegt und Rebecca angesprochen.

Sonntagabends fuhr ich mit Jack und Rebecca nach Großhesselohe, wo sich ein Dutzend von uns zum Lagerfeuer des Omer-Festes am Ufer der Isar verabredet hatte. Ich fühlte, dass Becci sich eher für mich als für Jack interessierte. Wenn sie mich ansah, zog ein feiner Schleier über ihre Augen. Wir saßen um das Feuer und sangen hebräische Lieder.

Wenn Becci mich ansah, zog ein feiner Schleier über ihre Augen.

Nachdem wir die verkohlten Kartoffeln heruntergewürgt hatten, legte Jack zaghaft den Arm um Rebeccas Schultern, sah mich grinsend an und erklärte, es gebe Idioten, die sich einen Spaß daraus machten, nachts die Isar zu durchschwimmen. »Das ist keine Idiotie, das ist Mut«, entgegnete ich. »Ich mach’s.« »Das ist nur etwas für Besoffene, lass das!« Mich trieb es, Becci zu imponieren. Ohne zu überlegen, legte ich Schuhe und Hose ab. Becci sprang auf und ergriff meinen Arm. »Rafi, bitte tu’s nicht. Ich weiß, dass du Mut hast.« »Ich kann nicht anders«, gab ich zurück, machte mich los und rannte über die Steine zum Fluss. »Komm zurück!« »Meschuggener!« »Dümmer als ein Goj.« Die Rufe stachelten mich an, ich lief ins Wasser, warf mich in den Fluss, dessen Temperatur ich zunächst nicht spürte, bis ich in der Mitte des ziehenden Stroms war. Da durchdrang mich die Kälte. Schwimm zurück!, befahl ich mir. Doch ich war nicht imstande, meiner Vernunft zu folgen, und peitschte mit Armen und Beinen weiter.

ufer Jetzt hätte mich mein sadistischer Schwimmlehrer sehen sollen! Das tiefe Wasser zwang mich, ans gegenüberliegende Ufer zu schwimmen. Als ich endlich dort anlangte, schnappte ich nach Luft. Mein Körper war dermaßen unterkühlt, dass er sich in der lauen Abendluft kaum erwärmte. Ich begann mit den Zähnen zu klappern, allenthalben spürte ich Gänsehaut. Zudem hatte mich die Strömung fast hundert Meter nach Norden getragen. Was tun? Wenn ich in nasser Unterwäsche hierblieb, würde es mir noch kälter werden. Irgendwann würde mich der eine oder andere mit dem Auto abholen und unter allgemeinem Gelächter zurückbringen. Es kam auch vor, dass Menschen in der Isar ertranken. Doch ich fühlte mich kräftig.

Die einzige Möglichkeit, mich in Rebeccas Gegenwart nicht lächerlich zu machen, war, sofort zurückzuschwimmen. Ich zwang mich wieder ins Wasser, das mir von Meter zu Meter eisiger vorkam. Dagegen half einzig, unverdrossen vorwärtszukraulen. Die Anstrengung raubte mir den Atem, statt Kälte fühlte ich nun ein Stechen wie von tausend Nadeln. Das Ufer kam nur allmählich näher. Nur noch zwanzig Meter … nur noch zehn. Alle, alle Kraft! Endlich konnte ich stehen, spürte Steine unter mir. Ich kniete mich hin. Die Strömung hatte mich weiter abgetrieben. Ich zwang mich hoch. Da kam schon Jack inmitten weiterer Burschen auf mich zu – und Rebecca. Als ich bei ihnen anlangte, zog sich Rebecca den Pullover über den Kopf und reichte ihn mir. In ihren Augen sah ich Mitleid und eine Spur Anerkennung – sie wusste, dass ich dem Wahnsinn nur um ihretwillen nachgegeben hatte.

Ich ergriff ihr Kleidungsstück, schnappte »Danke!«, riss mir das nasskalte Unterhemd herunter und streifte den Pullover über. Erst als wir am Feuer anlangten und ich mich eine Weile daran wärmen konnte, wich die Kälte aus meinen Gliedern. »Du hast heute bewiesen, dass auch Juden dumm genug sein können, Helden spielen zu wollen«, ließ sich Jack vernehmen. Einige lachten über seine Bemerkung, nicht aber Rebecca. Obgleich mein Freund objektiv recht hatte. Aber was ist zwischen Männern und Frauen schon objektiv?

Nachdem ich Jack abgesetzt hatte, fuhr ich Becci nach Hause. Als sie mich ansah, legte sich erneut der Schleier über ihre Augen. »Rafi, bitte versprich mir, dass du so etwas nie mehr machen wirst. Das hast du nicht nötig.« Ihre Lippen öffneten sich, wir küssten uns. Ich ertrank in ihrer Wärme. Als wir uns lösten, liebkoste sie meine Hände.

Rafael Seligmann: »Rafi, Judenbub. Die Rückkehr der Seligmanns nach Deutschland«. Langen Müller, München 2022, 400 S., 25 €.
Am 24. März stellt der Autor sein Buch im Jüdischen Museum Berlin vor.

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