Herr Dunetz, vor etwas über einem Jahr begann eine schwedische Schülerin, freitags den Unterricht ausfallen zu lassen, um für das Klima zu protestieren. Gerade ist sie über den Atlantik gesegelt. Wie bekannt ist Greta Thunberg in Israel?
Wenn wir eine Umfrage auf der Straße machen würden, wäre vielleicht einigen wenigen das schwedische Mädchen ein Begriff. Aber die Menschen, die sich mit dem Thema auch professionell befassen, kennen Greta Thunberg natürlich. Und mittlerweile wissen die Israelis schon viel mehr über den Klimawandel als früher.
Das klingt aber so, als gebe es noch Luft nach oben.
Nun, der Klimawandel wurde in der Gesellschaft und in der Politik lange nicht als das entscheidende Thema wahrgenommen. Allerdings hat sich so einiges getan, und das hat eben auch mit der jungen Frau zu tun, die gerade über den Atlantik gesegelt ist. Plötzlich haben Zeitungen Sonderseiten zum Klima, oder es gibt politische Talkrunden dazu. Die Wahrnehmung verändert sich also. Junge Menschen wollen die Wahrheit über das Klima wissen. Aber die Welt teilt sich nun einmal in Optimisten und Pessimisten – auch beim Klima.
Und zu welcher Seite zählen Sie sich?
Es kann sein, dass ich vieles nicht wahrhaben will, aber ich denke, dass wir ein hoffnungsvolles Szenario sehen müssen, sodass junge Menschen auch Hoffnung haben können. Aber nicht, indem wir sie anlügen, sondern, indem wir ihnen die Wahrheit sagen. Es gibt Lösungen! Es ist theoretisch möglich, ein nachhaltiges Energiesystem zu schaffen – schneller als gedacht.
Woran hapert es?
Am politischen Willen. Man braucht ein komplettes Umdenken in der Wirtschaft, und die Öffentlichkeit muss dahinterstehen. Wir müssen uns umstrukturieren.
Ist denn die Gesellschaft bereit, das zu tun?
Nein, das ist sie nicht – keine ist es, wenn wir ehrlich sind. Israel hat sich dem Umweltgedanken auch eher spät zugewandt. In Deutschland ist das Thema seit 40 Jahren aktuell. Es begann mit Gründung der Grünen. In Israel wurden Klima und Umwelt vielleicht vor 20 Jahren aktuell. Bei vielen kleinen Dingen haben wir die Einstellung der Menschen schon zum Guten gewendet. Bei manch anderen größeren Themen haben wir versagt. Aber ich will Ihnen zeigen, warum ich nicht aufgebe und denke, dass sich noch vieles ändern kann.
... ein Foto eines Babys?
Das ist meine Enkelin. Sie ist neun Monate alt. Und ich habe es mir angewöhnt, ihr Bild bei Vorträgen zu zeigen, denn ihretwegen setze ich mich für die Umwelt und für Nachhaltigkeit ein. Sie ist die nächste Generation. Ich muss mich fragen: Was habe ich getan, um für sie die Welt wenigstens in einem solchen Zustand zu hinterlassen, in dem sie war, als ich aufgewachsen bin?
Aber um noch einmal auf die israelische Gesellschaft zurückzukommen. Wie sieht es denn dort mit der Bereitschaft aus, im Sinne der Umwelt etwas zu verändern?
Es ist schwierig, das Wort Klimawandel zu begreifen. Engagement für die Umwelt, Bewusstsein für regionales Essen, vegane Ernährung, ökologisches Leben – das gibt es natürlich auch in Israel. Die Menschen verändern durchaus ihre Lebensweise. Vor allem junge Israelis sind offen, was neue Lebenskonzepte angeht. Israel ist immer bereit für Innovationen. Nur politisch sind wir nicht so innovativ.
Vielleicht kommt das ja noch mit den Wahlen am 17. September.
Ich hoffe es. Ich fliege extra dafür zurück nach Israel.
Wie wichtig ist das Thema Umwelt im israelischen Wahlkampf?
Da gibt es einen ganz klaren Unterschied zwischen deutscher und israelischer Politik. In Deutschland steht es ganz oben auf der Agenda. In Israel wird es hier und da angesprochen, aber es ist nicht wirklich ein Punkt, der auch in den Medien aufgegriffen würde.
Weil andere Themen dringlicher sind?
Ja, aber die Erderwärmung geschieht auch bei uns direkt vor der Haustür: Die Sommer werden länger, die Winter kürzer, wir hatten die großen Feuer im Carmel-Gebirge. Es ist kompliziert, zwischen einzelnen Vorkommnissen und dem Klimawandel eine Verbindung zu schaffen. Aber mittlerweile brennt es an so vielen Orten der Welt: in den USA, in Sibirien, in Deutschland, im brasilianischen Regenwald und in Afrika. Es sind wahrlich keine Einzelfälle mehr. Der Nahe Osten ist ein Krisenherd in Bezug auf die Erderwärmung.
Am 17. Juli gab es in Israel den heißesten Tag seit der Staatsgründung. In Sodom wurden 49,9 Grad gemessen. Sind das Temperaturen, auf die sich das Land einstellen muss?
Es wird immer heißer, und Studien sagen voraus, dass es Orte geben wird, die unbewohnbar sein werden, weil die Temperatur jenseits von 50 Grad Celsius liegen wird. Für Israelis ist Sodom ein abgelegener Ort in der Wüste. Niemand lebt dort. Wenn 49,9 Grad in Tel Aviv gemessen würden, dann wäre das öffentliche Interesse um ein Vielfaches größer.
Und das könnte zu einem Umdenken führen?
Nun, die Menschen sehen mittlerweile schon, dass sich eine Menge ändert. Wir hatten im fünften Jahr in Folge eine Dürre. Das ist nicht zu leugnen. Aber die Israelis haben viel mit ihrem Alltag zu tun. Fest steht: Die Vorhersagen für den Nahen Osten, was Wasser, was den Boden angeht, sind nicht gut. Blicken wir doch nach Syrien. Viele – auch in Israel – wissen vielleicht nicht, dass die Proteste eine Vorgeschichte haben. Nach Jahren der Dürre wanderten viele Bauern in die Städte ab. Dort allerdings gab es wenig Versorgung, keine Unterstützung durch die Regierung, und verschiedene Gruppen protestierten gegen die Diskriminierung. Die Folgen des Klimawandels haben den Krieg in Syrien nicht ausgelöst, aber die Auswirkungen von immensen Dürren haben den Konflikt verstärkt.
Könnte Israel Ähnliches bevorstehen?
Es sind zumindest sehr schlechte Aussichten für die Regierungen im Nahen Osten, die sich nicht mit den langfristigen Folgen der Erderwärmung auseinandersetzen. Was passiert, wenn Menschen kein Wasser und keine Nahrung mehr haben? Und genau darum geht es ja beim Klimawandel. Wenn es so weitergeht, können keine Nahrungsmittel mehr angebaut werden.
Wie wird Klimabewusstsein in Israel vermittelt? Geschieht das bereits in der Schule oder später?
Nach und nach werden Themen wie Umwelt, Mülltrennung oder Erderwärmung in der Schule aufgegriffen. Es gibt einige Programme, wie das »Green Network«, das eng mit Pädagogen zusammenarbeitet und das ich ins Leben gerufen habe. Ziel ist, dass wir, beginnend im Kindergarten über die Grundschule bis hin zum Abitur, junge Menschen über den Umgang mit unserer Umwelt informieren. Viele Schulen lassen sich auch als »Green Schools« zertifizieren. Allerdings muss man dabei im Hinterkopf behalten, dass dies alles aus Eigeninitiative geschieht. Im israelischen Schulsystem stehen Umwelt und Nachhaltigkeit nicht auf dem Lehrplan. Das Thema rangiert irgendwo ganz unten.
Weshalb wird es so wenig beachtet?
Die Vermittlung von Umweltthemen gilt als etwas, was man tun kann, aber nicht tun muss. Und das ist so absurd, denn wenn ich in Schulen gehe und sehe, wie viel Kreativität Kinder und Jugendliche beim Thema Nachhaltigkeit und Umweltschutz entwickeln, und wie ihre Augen leuchten, wenn sie an einem Projekt arbeiten, dann ist das doch der beste Beweis, dass man etwas erreichen kann. Mir ist bewusst, dass ein mögliches Fach Umwelt keinen Stellenwert wie Mathematik oder Englisch hat.
Könnte es den eines Tages haben?
Um es einmal so zu formulieren: Das Bildungssystem bestimmt nicht die Gesellschaft, es reflektiert sie. Und solange es diesen Bruch gibt, dass Menschen und auch die Politik zwar die Klimaveränderung sehen, aber ihr Leben so weiterführen wie bisher, so lange wird es schwierig bleiben. Dabei gibt es allerhand positive Beispiele im schulischen Bereich, die zeigen, wie Unterricht zu den Themen Nachhaltigkeit und Umwelt aussehen kann.
Wie unterscheidet sich das Umweltbewusstsein von Kindern, die in Städten aufwachsen, von demjenigen derer, die in einem Kibbuz groß werden?
Man kann nicht unbedingt behaupten, dass die Kinder deswegen einen bewussteren Zugang haben. Letztendlich sind alle heute viel zu sehr auf ihr Smartphone fokussiert. Und es hat auch viel mit der Persönlichkeit und Prägung des Kindes zu tun. Ich bin kürzlich selbst von Rosch Pina nach Tel Aviv gezogen.
Das heißt, raus aus der Natur und rein in die Stadt?
Ja, denn ironischerweise kommen Ideen für Nachhaltigkeit heute aus den Städten und nicht vom Land. Die Städte sind nicht mehr nur das Problem, sondern ein Teil der Lösung. Dort lassen sich Veränderungen leichter umsetzen als auf einem Dorf. Konzepte wie Car-Sharing oder E-Scooter sind für Städte konzipiert. Urban Gardening zum Beispiel ist ein großes Thema – besonders in Tel Aviv.
Und wie ist die Situation derweil auf dem Land?
Dort stellen sich andere Fragen: Wenn mehr und mehr Menschen in die Stadt ziehen, wer lebt dann noch auf dem Land? Wie wird Nahrung angebaut? Wer baut sie an? Was passiert, wenn die Alten zurückbleiben? Alles das hat auch mit Nachhaltigkeit zu tun.
Gibt es einen Widerspruch zwischen dem Image Israels als Start-up-Nation und Israel als Land mit ungenügendem Bewusstsein für die Umwelt?
Start-up-Nation, das ist ein Modewort, das uns anhaftet. Und in vielen Bereichen, gerade in der Hightech-Branche, sind wir das ja auch. Nur müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass dies allein ein kleiner Prozentsatz der Gesellschaft ist und viele Start-ups daran interessiert sind, ihr Wissen ins Ausland zu verkaufen. Was auf dem Gebiet der Nachhaltigkeit im Land bleibt, ist eher überschaubar. Und nur mithilfe der Technologie werden wir die Klimakrise nicht lösen können. Technologische Errungenschaften sind natürlich wichtig, aber nicht alles. Ich erwarte mir in diesen Fragen viel mehr von der Politik.
Was denn zum Beispiel?
Sehen Sie, Israel hat zum ersten Mal einen Bericht zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung bei den Vereinten Nationen abgegeben. Das ist schon einmal ein Schritt in die richtige Richtung. Und er war durchaus ein wenig selbstkritisch, aber letztendlich läuft es wieder nur auf die Start-up-Nation hinaus. Ich denke, dass da mehr kommen muss, denn Technologien sind immer nur so gut wie die Menschen, die sie nutzen. Mit Nachhaltigkeit oder Umwelt hat das wenig zu tun. Und das wird in Israel noch nicht richtig verstanden.
Wird sich das nach den Wahlen im September ändern?
Wir werden sehen. Ich fliege zurück, um für die Veränderung zu stimmen.
Haben Sie eigentlich Flugscham?
Da sprechen Sie einen wunden Punkt an. Ich kenne das durchaus. Ich bin hierher geflogen und werde auch zurück wieder ins Flugzeug steigen. In der ganz strengen Umweltbewegung ist das durchaus ein ernst zu nehmendes Thema geworden. Die costa-ricanische Politikerin Christiana Figueres, die maßgeblich am Pariser Klimaabkommen mitgewirkt hat, war in Israel. Und sie wurde gefragt, wie sie ihren Einsatz für die Umwelt mit ihren vielen Flügen vereinbaren kann. Sie sagte, dass sie eine Kompensation für den CO2-Ausstoß zahle.
Etwas, das fast alle Fluggesellschaften anbieten. Zahlen Sie?
Nein, aber eine Kollegin am Heschel Center sagte mir einmal, dass sie das Wort »Liebes-Meilen« bevorzuge. Denn wir sind unterwegs, um uns für etwas Gutes einzusetzen. Und ich hoffe, dass damit meine Flugscham etwas geschmälert wird. Aber es ist natürlich ein Thema, mit dem wir konfrontiert sind. Immerhin zählt Fliegen zu den umweltschädlichsten Dingen. Aber vielleicht werden wir da eines Tages Hand in Hand mit technologischen Entwicklungen gehen.
Mit dem israelischen Klimaforscher, Fellow am IASS Potsdam und Mitbegründer des Heschel Center for Sustainability in Tel Aviv sprach Katrin Richter.
David Dunetz forscht im Rahmen des German-Israel Research Exchange Program des Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS), der Heinrich Böll Stiftung in Tel Aviv und dem Israel Public Policy Institute (IPPI).