Wenn Robert Bober aus den Fenstern seiner großen Wohnung im 11. Pariser Arrondissement schaut, blickt er auf kleine Geschäfte und die Haltestelle der Buslinie 96. Mit ihr kann man die ganze Stadt diagonal von Nordwest nach Südost durchqueren. Manchmal steigt Bober in den 96er, doch noch immer durchstreift er Paris lieber zu Fuß. Er kennt jede Straße der Stadt, und hinter den neuen Hausfassaden sieht er die alten durchschimmern. Paris ist für ihn über die Jahrzehnte hinweg zu einem »durchsichtigen Gewebe« geworden. Er zitiert einen Vers von Baudelaire: »Die Form einer Stadt wandelt sich schneller als das Herz eines Menschen.«
autobiografisch Auch der Titel von Bobers neuem Roman Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen ist einem Gedicht entlehnt, von Paul Reverdy. Eine Rolle in dem Buch spielt der Autor selbst, der Paris durchkreuzt, um Drehorte für Francois Truffaut ausfindig zu machen. 1961 assistierte Bober dem Regisseur tatsächlich bei den Aufnahmen für Jules und Jim. Fast vierzig Jahre später erzählt er nun die »jiddische Variante« der Kult gewordenen Liebesgeschichte. Sie ist zugleich eine große Hommage an das Paris der 60er-Jahre – eine melancholisch gefärbte, aber keineswegs nostalgische Beschwörung von Orten, Klängen und Bildern, die den jungen Bober ästhetisch prägten.
In Bobers Büchern begegnet man stets ihm selbst. In seinem Debüt Was gibt’s Neues vom Krieg? (1995) tritt er uns als Schneiderlehrling Maurice Abramowicz entgegen. Unweit seiner heutigen Wohnung, zwischen République und Bastille, im einstigen Schmattes-Viertel, hat Bober bis 1953 als Zuschneider und Näher gearbeitet. Er teilt auch die Erfahrungen seines Helden Joseph Berg in Berg und Beck (2000), der in einer Ferienkolonie für jüdische Waisenkinder arbeitet und Jugendliche für Jazz, die Marx Brothers, das Rollschuhfahren und die Tour de France begeistert.
An den Wänden in Robert Bobers Arbeitszimmer hängen Schwarz-Weiß-Fotografien. Bober neben Jeanne Moreau und Oscar Werner bei den Dreharbeiten zu Jules und Jim; Ansichten der Rue Vilin, in der sein Freund, der Schriftsteller Georges Perec, zu Hause war und über die Bober einen Film drehte. Daneben Familienfotos: das Schuhmachergeschäft seines Vaters und das Lädchen der Mutter, die nebenan Korsagen und Büstenhalter nähte.
familie Und eine Aufnahme, datiert 1928: Sie zeigt Bobers Urgroßvater inmitten seiner Kinder, Enkel und Neffen. 1903 hatte er Polen verlassen, um über Wien nach Amerika auszuwandern. Den Bart nahm er ab, um bei den US-Einwanderungsbehörden nicht als frommer Jude Auffallen zu erregen. Dennoch wurde er abgewiesen und kehrte nach Wien zurück, wo er den Bart wieder wachsen ließ und seinen Lebensunterhalt mit handgefertigten Leuchtern verdiente. Der Urenkel Robert, 1931 in Berlin geboren, flog 1979 nach New York, um einen Dokumentarfilm über Ellis Island, den größten Einwanderungshafen der USA, zu drehen. Dort, angefüllt mit Geschichten über Diaspora und Exil, begann in ihm etwas zu wirken, für das er so schnell noch keine Form finden sollte. Er habe, sagt Bober, ein ganzes Leben gebraucht, um zu verstehen, warum er sich von jeher zu der Literatur von Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig und Joseph Roth hingezogen fühlte. Der Urgroßvater und die Schriftsteller gehörten zur gleichen Generation. Nur, dass sein Vorfahr nicht lesen konnte. Bober arbeitet an einem Film, der dem illiteraten Ahnen ein Denkmal setzen soll.
spaziergänge Auch von Madame Rayda, die der Filmemacher und Autor in seinem jüngsten Buch verewigt hat, hängt in dem Zimmer eine kleine Fotografie. Ein dicker Pelzkragen schmückt den Hals der Wahrsagerin, die aus dem Fenster ihrer Wohnung in der Rue Vilin lehnt und neugierig auf die Straße blickt. Auf einer Spanplatte am aufgeklappten Fensterladen hat sie in Schönschrift ihre Dienste aufgelistet: Hand- und Tintenflecklesen, großes chaldäisches Tarock, Hellsehen nach Foto und brieflich, Wiedergewinnung von Zuneigung.
Robert Bober ist ein Suchender, der der Nase nach durch die Straßen läuft, Türen aufstößt und dabei gelegentlich auf Leute stößt, die sich unumwunden zu ihrem Laster bekennen, das auch seines ist: Geschichten zu mögen. Am 17. November wird Bo-
ber 80. Möge er noch lange spazieren gehen durch Paris.
Robert Bober: »Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen«. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Kunstmann, München 2011, 284 S., 19,90 €
Vom 21. bis 25. November ist Robert Bober auf Lesereise durch Deutschland. Termine unter www.kunstmann.de