»Er war halt genialer als die anderen.« So erinnerte sich Edith Kramer, österreichische Exilantin und Begründerin der Kunsttherapie, im hohen Alter an Siegfried Bernfeld. Sie war verwandt mit ihm, hatte sich in Wien und später dann in den USA durch sein rhetorisches Talent inspirieren lassen – für die junge Psychoanalyse, für die zionistische Bewegung, die Jugendbewegung. Edith Kramer erinnerte sich: »Ein großartiger Redner, irgendwo ein Schauspieler. Ein faszinierender Vortragender. Er hat damit den größten Erfolg gehabt; und hat wirklich die Psychoanalyse beibringen können.«
Diese lebendigen Erinnerungen an den 1892 in Galizien geborenen, in Wien aufgewachsenen Zionisten und Freud-Schüler Siegfried Bernfeld teilte sie mit vielen Weggefährten, die durchgehend begeistert an diesen intellektuellen Himmelsstürmer zurückdenken. Dokumentiert ist dies in einer monumentalen, mehr als 600 Seiten umfassenden Biografie, die dem Leser das imposante Gesamtwerk dieses undogmatischen Linken und kritischen Freud-Schülers in eingängiger Weise nahebringt.
Viele Jahre lang war der 1953 im Exil in San Francisco viel zu früh Verstorbene vergessen. Erst die 68er-Bewegung entdeckte Bernfeld und seine zahlreichen Beiträge zu einer kritischen Pädagogik wieder, vor allem seinen 1925 geschriebenen Sisyphos oder Die Grenzen der Erziehung. Eine Auswahl seiner Schriften erschien anfangs in Raubdrucken, dann in den 70er-Jahren im S. Fischer Verlag. Das Projekt einer Werkausgabe, immer wieder angekündigt, scheiterte. Erst heute, wo die Begeisterung für die psychoanalytisch-sozialreformerische Tradition der Psychoanalyse schon lange versandet ist, legt der Gießener Psychosozial-Verlag eine auf zwölf Bände angelegte Gesamtausgabe vor. In diese Reihe gehört auch die hier besprochene, von dem Erziehungswissenschaftler Peter Dudek verfasste Bernfeld-Biografie.
progressiv Bernfeld war während seines Studiums in Wien einer der maßgeblichen Protagonisten der Jugendbewegung. Diese hatte, so wird heute geschätzt, etwa 3.000 Anhänger, stieß jedoch wegen ihrer progressiven Ausrichtung auch auf vehementen Widerstand. Bernfeld war zeitgleich Redner, Impulsgeber und »wissenschaftlicher Interpret« (Dudek). Vor allem jedoch wird uns Bernfeld als Protagonist der zionistischen Bewegung vorgestellt: Infolge der jüdischen Fluchtbewegung aus Galizien nach Wien im Ersten Weltkrieg – »1914 lebten bereits 150.000 Kriegsflüchtlinge aus Galizien und der Bukowina in der Stadt« – engagierte sich Bernfeld in seinen theoretischen Schriften, aber auch als Organisator sowie konkret handelnd 1918/19 in dem von ihm aufgebauten »Kinderheim Baumgarten« für den linken Flügel der zionistischen Bewegung. Das Kinderheim Baumgarten war ein kurzlebiges, aber bis heute vielfältig dokumentiertes Modellprojekt einer jüdischen Erziehung für etwa 240 Kinder und Jugendliche.
Bernfelds Vorträge fanden Anklang. Im Januar 1918 bemerkte die Jüdische Zeitung: »Bernfeld gilt uns, man darf es offen sagen, als einer der Talentiertesten des Nachwuchses: als Mann von starker geistiger Prägung«. »Ganz nebenbei« legte der produktive Theoretiker 1919 die utopische Schrift Das jüdische Volk und seine Jugend vor.
Bernfeld war zeitlebens von einer imponierenden Produktivität. Er war Mitherausgeber der »Blätter aus der jüdischen Jugendbewegung« sowie der Zeitschrift »Jerubbaal«. 1918 leitete er in Wien, gemeinsam mit Martin Buber, den österreichisch-jüdischen Jugendtag.
Produktiv 1920 ging Bernfeld für ein Jahr als Sekretär Bubers nach Heppenheim sowie Heidelberg und war in dieser Funktion Herausgeber der Zeitschrift »Der Jude«. Die Zusammenarbeit stand jedoch unter keinem guten Stern. Bernfeld war kränklich, objektiv durch seine zahlreichen Engagements überfordert. »Ein kurzes Intermezzo: Als Sekretär bei Martin Buber« ist dieses Kapitel demgemäß betitelt. Das Angebot der Zentrale der zionistischen Organisation, 1920 in Palästina ein jüdisches Institut für Jugendforschung aufzubauen, musste Bernfeld wegen seines labilen Gesundheitszustandes ablehnen. Buber war von der Zusammenarbeit enttäuscht. Nach einem Jahr kehrte Bernfeld nach Wien zurück.
Dort wurde er innerhalb kürzester Zeit trotz seines noch jungen Alters zu einem zentralen Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Und er publizierte weiter Buch auf Buch, engagierte sich bei der Entstehung der Kindertherapie. 1925 ging Bernfeld, sein Sisyphos war soeben erschienen, für sieben Jahre nach Berlin und suchte neue Wirkungsfelder – zugleich eine Phase der politischen Radikalisierung und einer sich noch steigernden literarischen Produktivität. Bernfeld fand neue Mitstreiter; mit dem ungestümen Wilhelm Reich verband ihn, trotz ihrer thematisch-politischen Nähe, eine zutiefst ambivalente Zusammenarbeit.
Exil In der Phase der Emigration – Bernfeld floh 1934 nach Frankreich, 1937 emigrierte er in die USA – zerbrach diese Zusammenarbeit auf tragische, bis heute nur schwer zu entwirrender Weise. Auch in dieser Biografie finden sich keine überzeugenden Antworten auf dieses Drama.
Bernfeld, der dreimal verheiratet war, emigrierte mit seiner Familie über Frankreich nach Amerika. Der größte Teil seiner Angehörigen vermochte sich zu retten, sein Bruder Manfred kam im Konzentrationslager um. Bernfeld fand in San Francisco eine neue Wirkungsstätte. Dort arbeitete er noch 16 Jahre lang. Als Laienanalytiker wurde ihm eine psychotherapeutische Tätigkeit untersagt, so arbeitete er als Lehranalytiker, Dozent und Publizist. 1944 war er an der von Ernst Simmel organisierten Konferenz über Antisemitismus – an der auch Max Horkheimer und Theodor W. Adorno mitwirkten – beteiligt; sein Vortrag wurde im Tagungsband nicht berücksichtigt.
Bernfeld kämpfte auch in den USA für die Laienanalyse und fand weiterhin Schüler. Der 20 Jahre jüngere, ebenfalls in Wien aufgewachsene Psychoanalytiker Rudolf Ekstein erinnert sich an ihn als einen scharfsinnigen, sehr skeptischen Intellektuellen. Im Zentrum von Bernfelds Engagement standen seine Entwürfe einer Freud-Biografie. Viele Freud-Biografen zehrten noch Jahrzehnte später von Bernfelds Forschungen, ohne dies immer angemessen zu würdigen. Auf Deutsch erschienen sie erst 1981, 28 Jahre nach seinem Tod.
»Siegfried Bernfeld und sein umfangreiches Werk sind weder vergessen noch verdrängt«, konstatiert Peter Dudek in seinem Epilog, nicht frei von Pathos. Seine Biografie verdient viele Leser.
Peter Dudek: »›Er war halt genialer als die anderen.‹ Biografische Annäherungen an Siegfried Bernfeld«. Psychosozial, Gießen 2012, 646 S., 59,90 €