Frau Gur, was ist Ihre erste Erinnerung an Essen?
Ich befürchte, dass es nicht unbedingt eine positive ist. Ich wurde in Riga geboren und ging während der Sowjetzeit in den Kindergarten. Damals mussten alle Kinder mittags aufessen. Während die anderen also schon Mittagsschlaf machten, saß ich als einziges Kind am Tisch und starrte auf mein Essen. Ich war damals einfach keine gute Esserin.
Nur im Kindergarten nicht oder auch zu Hause?
Meine Mutter hat nicht so oft gekocht, denn sie war als Ärztin beruflich sehr eingebunden, aber meine beiden Großmütter waren exzellente Köchinnen. Sie haben viel jüdisches Essen gekocht, was ich damals als solches noch gar nicht definieren konnte. Wir haben die jüdischen Feiertage nicht gefeiert. Gefilte Fisch, gehackte Leber, Hühnersuppe und der Apfelkuchen meiner Großmutter, das war unser Party-Essen.
Wie sind Sie kulinarisch in Israel angekommen?
Alles war anders: die Farben, die Gerüche. Ich erinnere mich an meinen ersten Falafel. Es war in Haifa. Eine Schulfreundin, die bereits einige Monate in Israel war, nahm mich mit. Für mich war sie eine, die sich bereits auskannte. Ich stand also vor diesem Falafel-Laden und hatte kein Geld dabei. Ich muss dem Verkäufer wohl leidgetan haben, denn er gab mir eine Falafel zum Probieren. Danach aß ich noch eine der grünen eingelegten Paprika – ich erinnere mich noch genau, wie scharf sie war.
Zu welcher Zeit des Jahres sind Sie nach Israel eingewandert?
Wir kamen im Juli. Es war sehr heiß. Und es war die Zeit der vielen Obstsorten. In Riga gab es natürlich auch Obst, aber erst im September. In Israel sah ich Wassermelonen, Mango, Pfirsiche. Es war unglaublich! Und dann gab es noch die riesigen Supermärkte. Verglichen mit denen von heute waren sie nichts Besonderes. Aber im Vergleich zu denen, die wir in Riga hatten, war es ein Ereignis. Die Türen öffneten von selbst, es gab Klimaanlagen und dann dieses große Angebot – so etwas war vollkommen neu für mich.
Haben Sie trotzdem etwas vermisst?
Ich habe mich Jahre später mit anderen Auswanderern aus der ehemaligen Sowjetunion unterhalten, und wir haben festgestellt, dass es durchaus viele Produkte gab, die gut schmeckten. Vieles war biologisch, sehr natürlich. Vor allem die Menschen, die in die USA gegangen waren, erzählten, dass es zwar alles gab, aber dass das Obst und Gemüse oft nach nichts schmeckte.
So wie Erdbeeren, die es im Dezember gibt. Fehlt Ihnen die saisonale Küche?
Ja, ich erinnere mich, dass meine Großmutter nur im Frühling Salate mit Radieschen, Frühlingszwiebeln und einem Dressing aus saurer Sahne und Dill zubereitete. Das gab es nur zu dieser Jahreszeit. Mit den Jahreszeiten zu kochen, ist uns verloren gegangen.
Ihr erstes Buch »Die neue israelische Küche« war eine Einführung in typische Gerichte. In Ihrem zweiten Buch »Jewish Soul Food« konzentrieren Sie sich auf traditionelle Gerichte. Wie kam es dazu?
Die israelische Küche vereint nahöstliches Essen mit traditionell jüdischen Speisen von überall her. Ich habe mich genau darauf konzentriert und wollte die Gerichte vorstellen, die vom Aussterben bedroht sind, weil die jüdischen Gemeinden, in denen sie zubereitet wurden, nicht mehr existieren. Der einzige Ort, an dem diese Speisen noch am Leben erhalten werden, ist Israel. Und keiner weiß, wie lange sie noch gekocht werden. Man darf also diese Gerichte nicht allein vorstellen, sondern muss die Leser auch dazu ermuntern, sie nachzukochen. Ich habe mich auf 100 Gerichte beschränkt, die sehr einfach zubereitet werden können.
Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Es gibt so viele Bücher über jüdisches Essen: Aschkenasisches, Sefardisches, einige Rezepte können ganz schön einschüchternd sein. Für mich war es wichtig, dass es Gerichte sind, die einen sofort in die Küche gehen lassen, um sie nachzukochen. Außerdem habe ich darauf Wert gelegt, dass das Buch bebildert ist, denn bei manchen Gerichten weiß man gar nicht mehr, wie sie aussehen.
Sie stellen aber auch moderne Variationen – wie den veganen Hamin – vor. Wie hat dieses Rezept denn ins Buch gefunden?
Das ist eine kleine Ausnahme. Das Gericht ist von den Gewürzen und der Art, wie es zubereitet wird, vom traditionellen Hamin inspiriert. Es wird vielleicht gar nicht so oft zubereitet, da man an Schabbat ja Fleisch essen soll. Der irakische Hamin zum Beispiel, eines der interessantesten Rezepte im Buch, ist ein sehr traditionelles Gericht.
Warum?
Nun, ich habe ihn nicht »modern« gemacht, sondern er ist so. Er ist viel leichter als der aschkenasische Hamin, der Bohnen, Kischkes und ziemlich schwere Zutaten enthält. Bei diesem Gericht stehen unter anderem Hühnchen und Reis auf der Zutatenliste. Trotzdem hat man ein traditionelles Essen zum Schabbat.
Fotografieren Sie Ihr Essen auch, bevor alle gemeinsam essen können?
Ich weiß, dass viele Menschen dies tun – wir sind alle Teil der digitalen Welt. Ich habe schon einige Male beobachtet, dass Menschen im Restaurant zuerst ein Foto machen müssen, bevor alle loslegen können. Ich selbst mache es nicht. Aber ich bekomme ab und zu Bilder von Gerichten geschickt, die aus meinen Büchern nachgekocht wurden. Und die sind oft sehr nah dran am Original. Wir selbst haben auch darauf geachtet, dass die Speisen im Buch so fotografiert werden, dass sie nachkochbar sind. Eine Suppe oder ein Reisgericht zu fotografieren, ist nicht einfach.
Welches ist Ihr Lieblingsgericht?
Der Apfelkuchen meiner Großmutter, die Herbal Meat Latkes und das syrische Huhn in Granatapfelsoße.
Mit der Kochbuchautorin und Chefredakteurin des Food-Magazins »Al HaSchulchan« sprach Katrin Richter.
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