Philosophie

Judith Butler und der defekte Kompass

Unterstützt die Israel-Boykott-Kampagne BDS: Die jüdisch-amerikanische Philosophin und Gender-Theoretikerin Judith Butler (67) ist Professorin an der Universität Berkeley. Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com

Nach dem blutigen und grausamen Überfall der Hamas vom 7. Oktober auf Israel mit mehr als 1200 Opfern hat die antizionistische Philosophin Judith Butler einen Text mit dem elegischen Titel »The Compass of Mourning«, zu Deutsch: »Der Kompass des Trauerns«, publiziert, in dem sie mehrfach das »Massaker« der Hamas moralisch verurteilt und ausdrücklich jede Relativierung oder gar Rechtfertigung dieses Pogroms zurückweist.

Historische Kontextualisierungen als solche sind zunächst keine Schwierigkeit.

Sie tritt in ihrem Text, der im »London Review of Books« erschien, für eine Politik der Gewaltlosigkeit ein und deutet – im Konjunktiv formuliert – ihre Hoffnung an, dass im Kampf für die politische Selbstbestimmung der Palästinenser in einem freien Staat die Hamas verschwinden oder durch andere politische Gruppen abgelöst werde, die ein gewaltfreies Zusammenleben mit Juden anstreben. Die amerikanisch-jüdische Autorin spricht sich für einen gewaltfreien Kampf aller aus, auch der palästinensischen Befreiungsbewegungen, und zwar im Interesse einer friedlicheren Welt.

OPFER Sie verurteilt ebenfalls die militärische Gewalt vonseiten des Staates Israel im Westjordanland und nun vor allem im Gazastreifen, der auch zahlreiche Zivilisten zum Opfer fielen. Zugleich fragt sie sich, ob man einen Weg finden könne, gemeinsam um die Opfer in Israel und in Palästina zu trauern, ohne sofort wieder in Wut, wechselseitige Schuldzuweisungen und Relativierungen zu verfallen.

Ethisch notwendig, so Butler, sei eine unmissverständliche Verurteilung des »erschreckenden und widerlichen Massakers« der Hamas vom 7. Oktober. Dennoch fordert sie eine historische Kontextualisierung dieser maßlosen Gewalt, die nicht als Relativierung oder Rechtfertigung aufgefasst werden solle.

Genau an diesem Punkt wird ihr Text problematisch. Denn nicht die historische Kontextualisierung als solche ist die Schwierigkeit. Schließlich agiert die israelische Regierung ähnlich, wenn ihr Botschafter bei den Vereinten Nationen von »unserem 11. September« spricht, Kabinettsmitglieder in Jerusalem Parallelen zum Jom-Kippur-Krieg ziehen oder Benjamin Netanjahu den 7. Oktober als größten Massenmord an Juden an einem Tag seit der Schoa bezeichnet.

Das alles sind historische Kontextualisierungen, die die geschichtliche Dimension dieser Terrortat betonen. Zudem sollen sie die Notwendigkeit einer militärischen Antwort rechtfertigen. Dabei erscheinen diese Einordnungen in Teilen selbst historisch zweifelhaft. Denn das Massaker der Hamas, sosehr es die israelischen Geheimdienste, die Armee und die Regierung überrascht hatte, bedroht – anders als der Jom-Kippur-Krieg – nicht die unmittelbare Existenz des Staates Israel. Und der Hinweis auf die Schoa wird den Dimensionen des systematischen Genozids nur schwer gerecht. Oder anders formuliert: Den grauenvollen, aber in dieser Massivität bisher einmaligen Terrorakt der Hamas in ein Verhältnis zur Schoa zu setzen ist ein Vergleich des Ungleichen.

UNTERKOMPLEX Was allerdings Judith Butler als historische Kontextualisierung des Hamas-Massakers anbietet, ist auf geradezu fahrlässige Weise unterkomplex und unangemessen. Sie bezeichnet den Staat Israel und seine Entstehung als Teil einer »Geschichte kolonialer Gewalt«, deren Opfer die Palästinenser seien. Im besetzten Westjordanland sowie im Gazastreifen würden Palästinenser durch Staatenlosigkeit, Apartheid und koloniale Herrschaft unterdrückt, weil sie dort systematischem Landraub und Enteignung, willkürlicher Verhaftung und Folter sowie Trennung von Familien, gezielten Tötungen und militärischer Überwachung ausgesetzt seien.

Kurzum: Kolonialismus und rassistische Apartheid sind die mehrfach wiederholten Leitmotive von Butlers historischer Kontextualisierung. Sie reiht Israel und den Zionismus nahtlos in die Geschichte kolonialer Gewalt ein, während die Palästinenser lediglich als Opfer derselben figurieren. Mit Ausnahme der Ereignisse vom 7. Oktober lesen wir bei der Philosophin kein einziges Wort über militärische Gewalt und Terror arabischer Staaten oder Organisationen gegen Israel und seine Bevölkerung.

MILIEUS Die moralisierende Schablonenhaftigkeit dieser zudem auch noch falschen historischen Schwarz-Weiß-Malerei bei einer (in anderen Zusammenhängen) differenzierten, sprachbewussten Intellektuellen wie Butler – erinnert sei hier an ihr Buch Hass spricht – mag überraschen, obwohl Butler sich bereits seit Jahrzehnten als jüdische Antizionistin positioniert hat.

Trotzdem ist das Ganze sehr ernst zu nehmen. Denn hier schreibt nicht irgendeine woke amerikanische Professorin aus Berkeley, hier spricht eine der Galionsfiguren der postkolonialen intellektuellen Milieus und affirmiert damit einen antikolonialistischen Israel-Diskurs, der in den Herzen und Hirnen von Intellektuellen und Politikern, insbesondere solchen des globalen Südens, längst omnipräsent ist.

Butler reproduziert nur gängige Kolonialismus- und Apartheidsvorwürfe gegen Israel.

War aus geopolitischer Perspektive der Konflikt zwischen Israel und den arabischen Staaten nach 1948 ein Teil des Gegensatzes zwischen Ost und West, so mutierte nach der Jahrtausendwende Israels Auseinandersetzung mit den Palästinensern wie selbstverständlich zu einem Aspekt des postkolonialen Nord-Süd-Konflikts, als politische Kampfarena des Westens mit dem immer selbstbewusster auftretenden globalen Süden.

In diesem Spannungsverhältnis spielt das Schlagwort Kolonialismus eine entscheidende Rolle – schließlich ist »Apartheid« alles andere als ein zufälliger Kampfbegriff, der gegen Israel in Stellung gebracht wird. Denn der globale Süden – so unpräzise dieser Begriff eigentlich ist, denn Länder wie Argentinien und Zimbabwe haben mitnichten gemeinsame Interessen – versteht sich pauschal als Opfer des westlichen Kolonialismus. Israel wird in diesen Diskursen stets auf der Seite der westlichen Täter-Nationen verortet.

Wie weit dieses simple, postkoloniale Täter-Opfer-Schema bei Künstlern und Intellektuellen bereits Konsens ist, zeigten geradezu exemplarisch die antisemitischen Skandale rund um die Kunstausstellung documenta fifteen im vergangenen Jahr: Juden und Israelis, aber auch Amerikaner wurden wahlweise als koloniale Eroberer, Unterdrücker, Ausbeuter oder Mörder porträtiert. Schon in Kassel konnte man den sich als antikolonial selbst legitimierenden Antisemitismus beobachten, wie er sich auf den Massendemonstrationen gegen Israel weltweit aktuell manifestiert: »From the river to the sea – Palestine will be free« – die in dieser Formel skandierte Forderung nach einer Befreiung vom Kolonialismus rechtfertigt zugleich einen Genozid an den Israelis.

KONTINUITÄT Eine der Ursachen dieses postkolonial auftretenden Furors ist die schiefe Optik postkolonialer Diskurse, in denen Juden als Weiße »gelesen« werden, was sie automatisch zu »Tätern« gegen die als indigen definierte Bevölkerung macht, in diesem Fall die Palästinenser, die gewaltsam kolonialisiert werden und damit zu »Opfern«. Die Tatsache, dass mit kurzen Unterbrechungen Juden seit der Antike in Palästina lebten, die selbst von den Römern, vom Byzantinischen Reich und diversen muslimischen Herrscherdynastien sowie den Kreuzfahrern, dem Osmanischen Reich und schließlich seit 1917 den Briten beherrscht und damit unterdrückt wurden, passt weder in das postkoloniale Täter-Opfer-Schema, noch wird sie überhaupt zur Kenntnis genommen. Juden als Opfer sind dort schlichtweg nicht vorgesehen.

Ähnliches gilt für die Ignoranz gegenüber dem Antisemitismus, selbst in seiner extremsten Form, der Schoa. Es handelt sich für die Vertreter einer postkolonialen Ideologie um Vorfälle, in denen »Weiße« Opfer von »Weißen« wurden. Die Schoa interessiert sie nicht.

Und dass aus jüdischer Perspektive der Zionismus eine legitime, nationale Befreiungsbewegung ist und der Staat Israel von Anfang an ein Zufluchtsort vor Diskriminierungen, Verfolgung und Massenmord konzipiert war, also als eine Art »Safe Space«, wird dabei ebenso ausgeblendet. Aus einer postkolonialen Perspektive heraus ist all das irrelevant oder nicht existent. Die Champions der Intersektionalität scheinen sprichwörtlich blind zu sein, wenn es um die jahrhundertealten Diskriminierungen und Verfolgungen von Juden geht.

GEWALT Davon ist aber ebenfalls nichts in Butlers historischer Kontextualisierung zu finden. Statt unmissverständlich das Existenzrecht Israels anzuerkennen und vielleicht dessen »koloniale« Siedlungspolitik zu kritisieren, reproduziert sie wieder einmal einfach nur die gängigen schwammigen Kolonialismus- und Apartheid-Vorwürfe gegen Israel und die Schrecken von »70 Jahren« Gewalt gegen die Palästinenser.

Bei jahrhundertealten Verfolgungen scheinen die Champions der Intersektionalität blind.

Unerwähnt bleibt gleichfalls, dass viele Juden und Israelis immer wieder gegen die Besatzungs- und Siedlungspolitik protestieren. Und die Tatsache, dass seit dem Rückzug Israels 2005 die Verwaltung in der Hand der Palästinenser lag und der Gazastreifen keineswegs einer »kolonialen Herrschaft« unterworfen war, scheint Butler ebenso mit keinem Wort erwähnenswert wie die Etablierung einer islamistischen Diktatur vor Ort, nachdem die Hamas 2006 in freien Wahlen gewählt worden war.

Von Butlers neuem Text erscheint allenfalls eine Passage bedenkenswert und diskussionswürdig, und zwar, wenn sie von der Perspektive eines gemeinsamen Trauerns schreibt, was bereits im Titel »The Compass of Mourning« angedeutet wird. Denn wie in jedem Krieg geschieht auf beiden Seiten Unrecht und Unheil, leiden Unschuldige. Frieden wird möglich, wenn man über die Opfer auf beiden Seiten trauern kann, ohne Rechthaberei, Relativierung und – das sollte ebenso selbstverständlich sein – unangemessene Kontextualisierungen.

Der Autor ist Professor für Jüdische Studien und Philosophie an der Universität Potsdam.

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