Gespräche

»Judentum positiv präsentieren«

Dieter Graumann äußert sich in seinem jüngsten Buch zu aktuellen Debatten und Zukunftsvisionen

 08.10.2014 14:16 Uhr

Dieter Graumann Foto: Rafael Herlich

Dieter Graumann äußert sich in seinem jüngsten Buch zu aktuellen Debatten und Zukunftsvisionen

 08.10.2014 14:16 Uhr

Mit welchem Vorsatz, welchem Programm haben Sie am 28. November 2010 Ihr Amt als Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland angetreten?
Mir schwebte eine Kombination aus Kontinuität und Veränderung vor. Ich war und bin der Überzeugung: Der Zentralrat kann nur bleiben, wie er ist, wenn er sich verändert. Ganz vieles haben wir beim Zentralrat sicher genau richtig gemacht, ich habe ja alles auch mitverantwortet. Manche Dinge haben sich aber vielleicht auch überlebt und bedürfen der Veränderung.

Was meinen Sie damit konkret?
Der Zentralrat muss gewiss auch Kritik üben, das ist klar. Aber er muss sicher nicht nur Kritik üben. Diese Rollenfixierung, die andere uns aufgedrängt haben, hat ihm nicht immer gutgetan. Und was die NS-Zeit und den Holocaust angeht: Niemand muss befürchten, dass wir die Vergangenheit jemals vergessen – keine Sorge! Wir haben ja schon, was mich selbst angeht, darüber gesprochen, wie ich über meine Eltern vom Holocaust geprägt bin – viel mehr, als mir oft lieb wäre. Aber eben nicht nur ich bin es, sondern meine ganze Generation und die Generation danach auf andere Weise sogar auch. Aber wir dürfen wiederum auch nicht so tun, als sei ausschließlich die Vergangenheit wichtig. Gerade wegen der Vergangenheit, die wir immer in unserem Herzen tragen werden, müssen wir darauf bedacht sein, in die Zukunft zu schauen, in eine positive, selbstbewusste und sichere Zukunft für das Judentum. Ein frisches, selbstbewusstes, plurales und vor allem auch ein positives, fröhlicheres Judentum in Deutschland. Und mir war es bei meinem Amtsantritt wichtig zu zeigen, dass wir diese neue Zukunft sofort selbst gestalten müssen: offensiv, aktiv, kreativ, kommunikativ. Schon gar nicht dürfen wir uns selbst etwa über den Holocaust definieren, so traumatisch er für uns alle gewiss immer bleiben wird. Aber unsere Katastrophe ist nicht das, wofür unser Judentum stehen soll. Das ist der Perspektivwechsel, der mir so am Herzen liegt: dass wir unser Judentum gerade auch anders präsentieren wollen, als es sich hier bei so vielen Menschen in den Köpfen festgesetzt hat – eben gerade nicht nur trübsinnig, traurig, melancholisch und so schrecklich lebensschwer, sondern eben auch temperamentvoll und heiter, dynamisch und begeistert immerzu dem Leben zugewandt. Wir wollen das Judentum auf eine positive Weise präsentieren, wie es eben über Jahrtausende hinweg auch stets gewesen ist. Wir stehen schließlich für eine Tradition, die mehr als 100 Generationen lang jüdische Werte in die Welt getragen hat. Vieles, was heute zur ethischen Grundausstattung der Menschheit gehört, fußt doch ohne Zweifel auf den Traditionen und Geboten des Judentums.

Es gibt vieles, auf das Sie als Juden stolz sein können?
Aber natürlich, das Judentum hat doch moralische und spirituelle Fundamente gelegt, die bis heute tragen. Auch und nicht zuletzt nicht geringe Teile des Christentums zum Beispiel. Jüdische Kultur, den jüdischen vielfältigen Beitrag, aber auch jüdische Selbstbehauptung im Sturm der Geschichte und so vieles mehr – darauf können wir doch auch stolz sein! Und heute: Wenn, wie erwähnt, zehn Prozent 90 Prozent erfolgreich »integrieren« – das ist doch wirklich etwas ganz Besonderes. Was wir an Integrationsarbeit für die Juden aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion mit unseren bescheidenen Mitteln leisten, das lässt sich sehen. Solch ein positives Bild von der jüdischen Gemeinschaft auch zu vermitteln, mehr in die Öffentlichkeit zu transportieren, das wünsche ich mir. Das ist auch der neue Ansatz des Zentralrats, der mir selbst doch so wichtig ist: ein frisches, selbstbewusstes, plurales und vor allem auch ein positives, fröhlicheres Judentum in Deutschland.

Gleichwohl liegt es in der Natur der Sache, dass der Zentralrat in aller Regel als Mahner und Kritiker wahrgenommen wird. Und der Grund liegt ja auch auf der Hand. Sie werden von den Journalisten nicht dann angerufen, wenn alle Synagogen gut besucht sind und zahllose russische Juden vorbildlich integriert werden. Sondern wenn ein Kölner Gericht die Beschneidung als Körperverletzung definiert oder wenn Grass ein anfechtbares Gedicht gegen Israel schreibt.
Natürlich wollen und werden wir uns weiter immer engagieren, mit Herz und Leidenschaft, bei Themen, die uns doch am Herzen liegen. Nichts ändert sich jemals daran. Wir sind keine Krawallmacher. Wir suchen keine Konflikte. Vielmehr suchen und finden die Konflikte uns dann schon – und das viel öfter, als uns das lieb wäre. Ich denke oft: Auf die sensible, politisch hellwache Stimme des Zentralrats der Juden kann man in diesem Land offenbar doch noch nicht verzichten. Und, keine Sorge, niemand muss auch auf uns verzichten. Mit uns ist auch in Zukunft definitiv zu rechnen! Freilich hat sich auch so manches Schreibmuster in der Öffentlichkeit inzwischen tief eingefressen und ist mittlerweile fast schon automatisiert. Übertrieben gesagt, ich denke manchmal: Ein Journalist, der nicht wenigstens zweimal im Jahr die Schlagzeile »Zentralrat empört« getitelt hat, der fürchtet offenbar schon um seine reine Daseinsberechtigung. Ich habe übrigens das »Empörungswort« selbst bewusst noch niemals benutzt, aber ich lese immer wieder, dass der Zentralrat über irgendetwas doch schon wieder so schrecklich empört sei. Wir Juden sind wahrscheinlich nicht immer ganz frei von Erinnerungsritualen, mag sein, das gebe ich zu. Aber ganz offensichtlich gibt es auch heftige journalistische Schreibrituale. Journalisten sind offenbar doch auch nur Menschen. Wer hätte das je gedacht? (...)

Sie haben an einer anderen Stelle unseres Gespräches erwähnt, dass die Bindekraft der Religion auch bei den Juden zurückgeht. Welche identitätsstiftenden Merkmale gibt es, wenn ein Jude sagt, er verstehe sich als Jude, aber er sei nicht gläubig?
So sehen es heute leider sehr viele Juden. Abgesehen davon gibt es natürlich viele Möglichkeiten, jüdische Identität zu begründen oder zu schöpfen: jüdische Kultur, jüdische Ethik, jüdischer Humor, ganz viel Gefühl, jüdische Traditionen, die Verbundenheit mit Israel und schließlich unsere gemeinsame Schicksalsgemeinschaft oder sogar Leidensgeschichte. Das ist ein besonders starkes Element: Zusammenhalt durch Leid. Ich wende mich zwar immer gegen den Gedanken, der Holocaust stifte unsere eigentliche Identität. Aber ohne Zweifel bindet der Versuch, ein ganzes Volk umzubringen, auch einander wiederum zusammen. Für mich selbst wird allerdings immer die Religion die entscheidende Kraft haben: Das bleibt für mich persönlich immer der Ort, wo unsere jüdische Seele wohnt. Wir Juden haben unsere Religion gehalten, indem sie uns gehalten hat. Auf eines kommt es mir aber an: Wir Juden haben schon viel zu viele Menschen verloren, als dass wir jemanden einfach ausschließen dürften. Also: Wer immer sich wirklich als Jude fühlt, aus welchem Grund auch immer, der oder die ist mir ganz persönlich immer willkommen. Wobei natürlich immer die religiösen Regeln zu beachten sind – dem Judentum kann man nun einmal nicht so einfach beitreten wie einem Sportverein. (...)

Wie muss man sich die Organisation, die Verwaltungsstruktur des Zentralrats vorstellen?
Der Zentralrat ist die politische Vertretung der Juden in Deutschland. Er ist aber nicht die vorgesetzte Behörde für die Jüdischen Gemeinden. Das ist sozusagen ein nahezu schon heiliges Gesetz. Der Zentralrat kann sogar vielleicht den Papst oder den amerikanischen Präsidenten kritisieren, aber er kann nicht verfügen, dass in einer Jüdischen Gemeinde irgendwo in Deutschland ein einziger Tisch auch nur um zehn Zentimeter verrückt würde. Und der Zentralrat ist auch kein religiöses Organ. Er besteht aus Großgemeinden und den Landesverbänden, die sich wiederum aus den einzelnen örtlichen Gemeinden zusammensetzen.

Der Zentralrat soll also seinem Namen gerecht werden, er soll das Zentrum des Judentums in Deutschland bilden?
Insgesamt soll der Zentralrat das jüdische Kompetenzzentrum im Land sein, unter dessen Dach sich alle, die sich jüdisch engagieren, politisch zu Hause fühlen sollen. Er ist nunmehr das Kraftzentrum und die Power-Station des Judentums im Land geworden. In einer Zeit, in der es Bewegungen gibt, die jüdische Gemeinschaften auch zersplittern wollen, ist es doch ganz besonders wichtig, dass der Zentralrat eine starke Kraft bleibt und sogar noch immer stärker wird. Wenn ich mir etwa die Beschneidungsdebatte anschaue, so wäre sie ohne einen starken Zentralrat der Juden niemals im Leben so geführt worden und wäre auch ganz sicher nicht so ausgegangen. Und das alles ist doch nur der Anfang – wir wollen zusammen noch so viel mehr erreichen! (...)

Was hat Sie überhaupt motiviert, sich der Aufgabe im Zentralrat zu stellen?
Es ist ja immer schwierig, in sich hineinzuhorchen. Vieles geschieht mehr aus dem Instinkt heraus als vom Intellekt her. Bei mir war es sicher auch das Gefühl: Ich bin in vielem so privilegiert, dass ich die Verpflichtung verspürte, auch etwas zurückzugeben. Und dann denke ich, dass gerade wir Juden die Aufgabe haben, uns gegen die Ausgrenzung von Menschen immerzu einzusetzen – weil wir dafür zwangsläufig eine besondere Sensibilität haben. Wir setzen uns gewiss ein für unsere Menschen mit ganzem Herzen: Aber wir sind eben doch kein bloßer »Lobby-Verband« für jüdische Menschen. Vielmehr engagieren wir uns immer, wenn Menschen drangsaliert und entrechtet werden. Das ist für mich der eigentliche moralische und politische Markenkern des Zentralrats der Juden. Und dann ist es das starke Gefühl, dazu beitragen zu wollen, der jüdischen Gemeinschaft hier, und eben gerade hier in Deutschland, allen Lasten der Vergangenheit zum Trotz, eine neue, eine moderne, eine frische und sogar auch eine positive Perspektive zu verschaffen. Das wünsche ich mir: Das ist mein Plan und Programm, meine Ambition. Ich hoffe, dass es gelungen ist, hier gemeinsam ein Stück voranzukommen. Und dass ausgerechnet mir, den die Eltern durch den skurrilen Namenswechsel – »von David zu Dieter« – seinerzeit doch als Juden gar nicht mehr erkennbar machen wollten, diese Rolle zugefallen ist, das ist tatsächlich mehr als kurios und eine ganz besondere Ironie der Geschichte. Wer weiß – vielleicht sogar ein wenig Schicksal?

Aus: »Ab heute heißt du Dieter!«. Herausgegeben von Werner D’Inka und Peter Lückemeier. Kösel, München 2014, 160 S., 16,99 €

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