Als am 10. November 1938 die Synagogen in ganz Deutschland in Schutt und Asche lagen, sah Thüringens Landesbischof Martin Sasse dies als passendes »Geburtstagsgeschenk« für Martin Luther und schrieb: »Wahrlich kein größerer Dienst hätte ihm geleistet werden können.« Sasse lobte den Reformator posthum als »größten Antisemiten seiner Zeit«. »Stürmer«-Herausgeber Julius Streicher, den das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal 1946 zum Tode verurteilte, wähnte sich bei seinen Hetzkampagnen ebenfalls in guter lutherischer Tradition.
Und in der Tat hatten die Nazis leichtes Spiel, sich propagandistische Anleihen bei Luther zu holen, insbesondere bei seiner berüchtigten Schrift von 1543, Von den Juden und ihren Lügen, die der weltlichen Obrigkeit die Zerstörung von Synagogen, jüdischen Schulen und Wohnungen, die Konfiszierung religiöser Schriften, das Lehrverbot für Rabbiner, harte Zwangsarbeit und schließlich auch die Vertreibung der Juden empfahl. Es ist dies einer der dunkelsten Flecken evangelischer Kirchengeschichte, ein Skandal mit Spätfolgen, der im Vorfeld des 500-jährigen Reformationsjubiläums 2017 unangenehm aufstößt, teilweise verdrängt und bagatellisiert wird.
Novum Dass es anders geht und das belastende Thema offen und ehrlich auch interkonfessionell diskutierbar ist, zeigte vergangene Woche die Berliner Tagung »Reformator, Ketzer, Judenfeind – Jüdische Perspektiven auf Martin Luther«. Organisiert wurde sie gemeinsam von der Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden in Deutschland und der Evangelischen Akademie zu Berlin. Ein Novum der Zusammenarbeit, das Hoffnung macht und Zukunftssignale setzen könnte.
Schon die Eröffnungsveranstaltung im Französischen Dom in Berlin-Mitte, zu der auch Zentralratspräsident Josef Schuster und der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nikolaus Schneider, kamen, ließ einen großen Kommunikationsbedarf erkennen. Hier diskutierten evangelische Theologiestudenten mit jüdischen Kommilitonen, während an den Folgetagen auf der Halbinsel Schwanenwerder in gemeinsamen Arbeitsgruppen um eine thematische Bewältigung des Antisemitismus in der Reformation gerungen wurde.
»Das war eine neue kollektive Erfahrung, die wir so bisher nicht kannten«, staunte Sabena Donath, Leiterin der Bildungsabteilung. »Wir hatten uns auf die Tagung gut vorbereitet und wussten, dass die Gespräche viel verlangen würden. Aber wie sich Juden und Nichtjuden hier gemeinsam einem für alle schmerzlichen Thema genähert haben, das hat mich sehr beeindruckt.«
streitbar Die Tagung auf Schwanenwerder, die schon Wochen vorher ausgebucht war, geriet nebenbei auch zu einem spannenden Forschungsaustausch. »Vorträge und Diskussionen hatten ein hohes Niveau und streitbaren Charakter«, konstatierte Doron Kiesel, Wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung. »Wir hatten Referenten, die sich sehr profund mit religiös motiviertem Antijudaismus auseinandersetzen, ohne dabei zu polemisieren oder zu bagatellisieren. Man hat sich gegenseitig gut zugehört, und das war eine sehr tragfähige Basis.«
Zu den bemerkenswertesten Vorträgen gehörte der von Andreas Pangritz, Professor für Theologie an der Universität Bonn. Er ging auf verschiedene judenfeindliche Texte Martin Luthers ein, die Nazis wie deutsche Christen später propagandistisch ausschlachteten, die im Kern aber auch eine starke theologische Komponente tragen. Pangritz verwies auf den bekannten Antisemitismusforscher Léon Poliakov, der zugespitzt danach fragt, ob »ein wirklicher Christ, der seinen Gott in der Weise eines Martin Luther anbetet, nicht schließlich unvermeidlich die Juden aus ganzer Seele verabscheuen und sie mit allen Kräften bekämpfen« müsse.
Mit Hinweis auf historische Quellendokumente räumte Pangritz zudem mit der Legende auf, nur der hochbetagte, verbitterte Luther habe sich zu exzessiv judenfeindlichen Äußerungen hinreißen lassen. Vielmehr kam er zu dem Schluss, dass die Vermischung von theologischen mit säkularen Argumenten ein Spezifikum von Luthers Judenfeindschaft ausmacht und als »Geburtsfehler der lutherischen Theologie« gelten kann. Dass unter Umständen auch ein »Umbau der Theologie« notwendig wäre, um der christlich intendierten Judenfeindschaft ein für alle Mal den Boden zu entziehen, schloss der Bonner Theologe ebenfalls nicht aus.
Curriculum Wie seltsam unterschiedlich deutsche Juden Martin Luther, die Reformation und den sie begleitenden Antijudaismus früher rezipierten, offenbarten die Vorträge von Debra Kaplan (Bar-Ilan-Universität Tel Aviv) und Christian Wiese (Goethe-Universität Frankfurt am Main).
Die oft überraschend wohlmeinenden, teils sogar idealisierenden Sichten auf Luthers Leben und Wirken, wie sie uns im 19. und frühen 20. Jahrhundert begegnen, deutete Wiese als eine »tragische Liebe« und den tiefen Wunsch nach einer – letztendlich illusorischen – deutsch-jüdischen Symbiose. Die Liste jüdischer Luther-Verehrer reichte von Heinrich Heine über Abraham Geiger, Salomon Ludwig Steinheim bis hin zu Hermann Cohen (vgl. Jüdische Allgemeine vom 4. Juni).
Nahezu jeder Vortrag auf Schwanenwerder erzeugte Resonanz und lebhafte Diskussionen, worüber sich nicht zuletzt auch Ko-Organisator Christian Staffa von der Evangelischen Akademie zu Berlin sehr freute: »Wir haben viel voneinander gelernt, und an dieser Stelle machen wir gemeinsam weiter.« Staffa plädiert zudem für die Integration eines Faches »Christlich-Jüdische Studien« im Curriculum künftiger Theologiestudiengänge. Dies könnte sicher dazu beitragen, dass Tagungsthemen wiedieses am Ende auch an der Basis der Kirchgemeinden ankommen.