Standpunkt

Juden als »Hyper-Weiße«

Natan Sznaider Foto: studio-thomas

Freiheit muss zu Konflikten führen. Wir alle werden durch die räumlichen, zeitlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen der physischen Welt eingeschränkt. Wir sind in unseren Körpern und Umgebungen gefangen, manchmal sogar eingeschlossen. Freiheit heißt, unter diesen Voraussetzungen handeln zu können.

In diesem Zusammenhang ist das Buch von Jan Feddersen und Philipp Gessler Kampf der Identitäten. Für eine Rückbesinnung auf linke Ideale (Ch. Links Verlag 2021) ein wichtiger Beitrag. Es könnte sogar ändern, wie Menschen über Identitäten und Identitätspolitik nachdenken. Rückbesinnung auf linke Ideale ist ein komplexer Titel, denn sind es nicht einfach klassisch liberale Ideale wie Pluralismus und Meinungsfreiheit, die hier eingefordert werden? Geht es nicht eher um Bürgerlichkeit und Aufklärung?

Jüngere Menschen des sogenannten »woken« Milieus wollen Rassismus und andere Formen der Diskriminierung nicht mehr tolerieren. Dazu gehören leider auch Sprechverbote, Sprachgebote und andere Formen von genau gesetzten Normen des gegenseitigen Umgangs. Der anti-rassistische Diskurs dreht den alten Rassismus nun einfach gegen Andersdenkende.

GENERATIONENKONFLIKT Handelt es sich um einen Generationenkonflikt? Für ältere Menschen ist die Gegenwart das Ende der Vergangenheit. Man schaut zurück auf Erfolge und Niederlagen, und für Feddersen und Gessler findet sich in der Tat auch vieles zum Zurückschauen. Die Welt ist besser geworden für sie.

Aber das Milieu, das sie kritisieren, sieht die Welt anders: Gegenwart ist hier der Anfang der Zukunft. Es gibt keine Erfolge in der Vergangenheit, es gibt nur die selbst gefühlte Diskriminierung in der Gegenwart, die keinen Widerspruch duldet. Daher ist dieser Essay auch eine Dokumentation kultureller Missverständnisse, mit denen wir in unserer hypermodernen Zeit konfrontiert werden.

Es gibt keine Erfolge in der Vergangenheit, es gibt nur die selbst gefühlte Diskriminierung in der Gegenwart, die keinen Widerspruch duldet.

Identitätspolitik wird als autoritäre, ja fast schon fundamentalistische Politik kritisiert, die zwar gut gemeint viele vorher diskriminierte Gruppen emanzipieren will, aber diese Emanzipation mit dem Preis von »Cancel Culture«, Sprechverboten und Angst vor der eigenen Courage erkauft. Es geht um den negativen Einfluss des amerikanischen universitären Milieus, das nun nach Deutschland importiert wird.

Es geht um junge Menschen, die keine historischen Erfahrungen gesammelt haben und nun glauben, dass die Kämpfe für mehr LGBTQ-Rechte, der anti-rassistische Kampf, die anti-kolonialistischen Befreiungsbewegungen gerade erst begonnen haben.

Und es geht um den latenten Antisemitismus dieses Milieus, das in Juden »Hyper-Weiße« sieht und Israel als den rassistischen Staat überhaupt. Es scheint durchaus, dass diese Einstellungen im vergangenen Sommer auch in Deutschland angekommen sind.

NEOLIBERALISMUS Es geht um Glaubensfragen der neuen Moralapostel: Die Autoren sind von der »woken« Intoleranz so überwältigt, dass sie nicht genau wissen, ob sie sie als romantische oder neo-liberale Rhetorik einordnen sollen. Der Vorwurf des (Neo-)Liberalismus trifft ins Herz der Debatte, denn die jungen Radikalen beschreiben sich natürlich anders.

Er ist aber richtig. Im Zeitalter des Neoliberalismus werden Probleme nicht gesellschaftlich, sondern zuerst individuell und persönlich betrachtet. Mit (Neo-)Liberalismus ist auch gemeint, dass historische Kontexte völlig ignoriert werden.

Gleichheit ist eine Leidenschaft, und wie jede Leidenschaft kann sie nie befriedigt werden.

Es geht um die selbst empfundene Gleichheit als soziales und kulturelles Regime – es geht nicht um politische Gleichheit. Denn je gleicher wir werden, desto gleicher will man sein. Alle verdienen Respekt. Niemand darf ausgeschlossen werden – auch das ist ein Paradox der Moderne.

Gleichheit ist eine Leidenschaft, und wie jede Leidenschaft kann sie nie befriedigt werden. Im Gegenteil, die Leidenschaft zur Gleichheit produziert mehr Leidenschaft, und eigentlich kann die erwünschte Gleichheit nie erreicht werden. Das erklärt auch die Irrationalität und den heiligen Zorn des sogenannten »woken« Milieus.

TUGEND Was bleibt, ist die heilige Tugend – und es scheint, dass die Guillotinen der Französischen Revolution grüßen lassen. Die Autoren als Beteiligte einer älteren Generation decken das Paradoxe der neuen Kulturkriege auf. Der Konflikt ist eigentlich das Produkt des eigenen historischen Erfolgs des Kampfes für Gleichheit. Deshalb fordern sie eine historische Rückbesinnung.

Das Problem ist aber, dass die neue radikale Kulturpolitik sich nicht rückbesinnen kann, auch wenn sie wollte. Rückbesinnung würde auch »kulturelle Aneignung« bedeuten – und ein Verständnis, dass es in der Politik nicht um Wahrheit geht, sondern um das Finden von Kompromissen zwischen den verschiedenen Weltanschauungen.

Europa

Spanien stellt Teilnahme Israels am Musikwettbewerb ESC infrage

Beim Eurovision Song Contest soll es eigentlich um Musik gehen. Doch die Politik spielt immer öfter mit hinein. Aktuell droht eine neue Debatte um Israel. Grund ist der Krieg im Gazastreifen

 14.04.2025

Geistesgeschichte

»Wirklicher Liberalismus«

Die Biografie des Politikwissenschaftlers Adolf Grabowsky zeigt exemplarisch, warum Konservatismus und Fortschritt keine Gegensätze sein müssen

von Matthias Oppermann  14.04.2025

Interview

Günther Jauch: Hans Rosenthal war ein Idol meiner Kindheit

Der TV-Moderator über den legendären jüdischen Showmaster und seinen eigenen Auftritt bei »Dalli Dalli« vor 42 Jahren

von Michael Thaidigsmann  11.04.2025

UNESCO

Talmud-Handschrift zu Weltdokument ernannt

Das Weltdokumentenerbe vereint Buchbestände, Handschriften, Partituren, Bild-, Ton- und Filmaufnahmen von außergewöhnlichem Wert für die Menschheitsgeschichte

 11.04.2025

10. Todestag

Zwischen Erinnerung und Engagement: Günter Grass heute

Literarisch brachte er es zu höchsten Ehren, politisch war er ein kritischer Wegbegleiter der Bundesrepublik, aber auch ein gescheiterter Moralist. Ein Zeitzeuge erinnert sich an Günter Grass als verlässlichen Freund

von Klaus Blume  11.04.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Katrin Richter  11.04.2025

Deichbrand-Festival

Macklemore-Auftritt: Kulturwissenschaftlerin rät von Konzertabsage ab

Sie empfiehlt den Festival-Veranstaltern, das Konzert mit Diskussions- und Informationsveranstaltungen zu begleiten

 11.04.2025

Kulturkolumne

Freiheit schmeckt nach mehr als Mazzeknödel

Das Menü soll weniger aschkenasisch aussehen: Warum es bei meinem Sederabend auch Mina de Espinaca gibt

von Laura Cazés  11.04.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Omas Makronen oder Wie schmeckt Erinnerung?

von Nicole Dreyfus  11.04.2025