Kein Zweifel, sie sind alle meschugge. Und je mehr es sind, desto meschuggener sind sie. Allerdings haben sie nicht unbedingt Schuld daran. Oder nur zum Teil. Denn wie soll man schon sein, wenn man in einem Land zusammengewürfelt wird, das einem verheißen wurde, das man aber dann mit Gewalt verteidigen muss? Wenn einem der Feind (erst der Nazi, dann der Araber) eine Identität aufzwingt, die man vielleicht gar nicht will? Dann vergisst man seine Geschichte. Oder man lügt sie sich so zurecht, dass sie passt. Auch die der Familie. Denn es ist ja doch zum Besten. Zum Besten des Landes, zum Besten der Kinder. Oder nicht?
affekt Doron Rabinovici erzählt in seinem neuen Roman Andernorts, der für den Deutschen Buchpreis nominiert ist, von Juden und von Lebenslügen. Am Anfang sitzt Ethan Rosen, der Held des Buchs, im Flugzeug aus Israel, wo er bei der Beerdigung von Dov Zedek war, Schoa-Überlebender, jüdischer Aktivist und der beste Freund seines Vaters. Ethan ist auf dem Weg heim nach Wien, wo sich der eloquente und streitbare Essayist gerade um eine Professur am Soziologischen Institut bewirbt. In einer österreichischen Zeitung liest er einen Nachruf auf Dov Zedek, der die Rolle des Verstorbenen als Initiator von »Fahrten jüdischer Jugendlicher nach Auschwitz« erwähnt und dazu eine israelische Zeitung zitiert, »in der ein bekannter Intellektueller über organisierte Gruppenreisen israelischer Jugendlicher nach Auschwitz herzog. Birkenau sei kein Jugendlager und die Schornsteine der Verbrennungsöfen eigneten sich nicht für Lagerfeuerromantik. (…) Es wäre besser, mit der Jugend einige Kilometer in den Osten zu fahren, in die besetzten Gebiete, um ihnen zu zeigen, was um sie herum geschieht.«
Ethan liest das im Flieger und tut dann das, was er am liebsten macht und am besten kann: Er regt sich auf. Zu Hause in Wien angekommen, verfasst er eine wütende Replik. »Fünfzehn Minuten Zorn. Schreiben im Affekt. Im Geburtsland des Führers, tippte er, kämen einem die Ausführungen irgendeines ungenannt bleiben den Israeli gerade recht, wenn es darum gehe, heimatliche Selbstvergessenheit zu beschönigen. Er schrieb von der Notwendigkeit der Erinnerung und von Tendenzen, ob in Budapest oder Teheran, die Schoa zu leugnen.«
erbgut Damit wäre eigentlich der Fall erledigt, ein Streit unter Intellektuellen, der eine ist dafür, der andere dagegen: Zwei Juden, drei Meinungen, wie das Sprichwort sagt. Nur ist es hier tatsächlich ein einziger Jude mit mehreren Meinungen. Der »bekannte Intellektuelle« in der israelischen Zeitung war niemand anderer als Ethan höchstpersönlich gewesen. Und so hat er gegen sich selbst polemisiert, vehement gegen seine eigene Meinung angeschrieben, sich über sich selbst aufgeregt. Das kommt heraus und schlägt noch weitere Wellen, als sich herausstellt, dass Rudi Klausinger, der Verfasser des kritisierten Nachrufs und Ethans Erzrivale, sich ebenfalls auf die Stelle an der Wiener Universität beworben hat. Nun sieht es auch noch so aus, als ob Ethan einen Konkurrenten wegbeißen wollte. Die Geschichte dreht sich noch eine Windung weiter, als Ethan wieder nach Tel Aviv fliegt, weil sein alter Vater ins Krankenhaus muss – und dort ausgerechnet Rudi Klausinger am Krankenbett triff. Der, unehelich geboren, ist lange auf der Suche nach seinem Vater gewesen und hat ihn in Felix Rosen gefunden. Rudi und Ethan sind Brüder. Dann taucht auch noch ein ultraorthodoxer Rabbi auf, der ausgerechnet hat, dass der Messias bereits gezeugt wurde, in einem galizischen Schtetl, aber nicht geboren, weil seine Mutter 1942 ermordet worden war. Nun will der Rabbi aus der DNA der überlebenden Verwandten – und Felix ist einer davon – den Messias künstlich herstellen: kein Jurassic, sondern ein Judaic Park.
Opferkult Doron Rabinovici, polnisch-rumänischer Abstammung, 1961 in Tel Aviv geborener und seit 1964 in Wien lebender Schriftsteller, Essayist und Historiker, reißt in seinem neuen Roman viele Themen an: Kann eine Meinung in Israel richtig sein und in Österreich (oder Deutschland) falsch? Wie geht man mit der Vergangenheit als Opfer um? Wie bewahrt man die Erinnerung, wenn die Überlebenden aussterben? Darf man lügen, um eine andere Wahrheit zu sagen? Und was ist mit Gojim, die Juden werden wollen, so wie Rudi, dem Ethan vorwirft: »Wie verlockend, ein Opfer sein zu dürfen, ohne je gelitten zu haben.«
Ernste Fragen, die Rabinovici angenehm ironisch aufgreift: vom »Headbanging« beim Davnen – »das halbe Land wippe hin und her, als wäre der ganze Staat eine Heilanstalt«, über Israel, für das »die permanente Ausnahmesituation die einzige Normalität ist« bis zu »diesem Verfolgungswahn, der in der Diaspora unsere Folklore war und nötig zum Überleben«. Wo findet man vor all diesen Verrücktheiten seine Ruhe? Wie der Titel sagt: Andernorts. »Sein Jerusalem war immer andernorts und überall zugleich«, heißt es an einer Stelle.
Rabinovicis Buch ist eine fantasievolle, realistische, witzige, rasante, satirische, liebevolle Auseinandersetzung mit Israel und der Jüdischkeit, Schoa und Säkularität, Lebenslügen und Weisheit, Selbsterfahrung und dem Wahnsinn der Normalität. Der Roman ist sicher geschrieben und komponiert, aber locker gefügt. Eine gelungene Unterhaltung und ein ernster Zustandsbericht in einem.
Doron Rabinovici: »Andernorts«. Suhrkamp, Berlin 2010, 286 S., 19.90 €