Bayern um die Jahrhundertwende, das ist für die meisten die viel beschworene »gute alte Zeit« und eine heile Welt. Die Wittelsbacher saßen auch nach über 700 Jahren noch fest im Sattel und herrschten wie eh und je über ein weitgehend katholisches und agrarisch geprägtes Land. Und die Hauptstadt München, allen voran ihr Stadtteil Schwabing, stand in dem Ruf – ganz im Gegensatz zum preußisch-militaristischen Berlin –, eine freisinnige sowie kunstverliebte Metropole zu sein. Doch der verlorene Erste Weltkrieg und die damit einhergehenden revolutionären Ereignisse sollten auch in Bayern innerhalb weniger Tage die »Welt von gestern« hinwegfegen.
Bereits in der Nacht vom 7. auf den 8. November 1918 rief der jüdische Journalist und Schriftsteller Kurt Eisner den Freistaat Bayern aus. Er selbst wurde von der Versammlung der Arbeiter- und Soldatenräte zu dessen Ministerpräsidenten gewählt – eine Premiere gleich in mehrfacher Hinsicht. Denn Eisner war der erste Jude in einem so hohen politischen Amt in Deutschland, und das in der ersten Demokratie auf deutschem Boden. Und er war nicht der einzige jüdische Akteur, wie Michael Brenner in seinem Buch Der lange Schatten der Revolution schreibt.
LITERATEN »Unbestreitbar ist, dass in Deutschland weder vorher noch nachher jemals so viele jüdische Politiker im Rampenlicht der Öffentlichkeit standen wie während des halben Jahres zwischen November 1918 und Mai 1919«, schreibt der Historiker, der an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie an der American University in Washington lehrt.
Wen das Faktische auf breiter Quellenbasis interessiert, der kommt an dem Buch von Michael Brenner nicht vorbei.
»Eisner, Landauer und Mühsam entstammten ebenso jüdischen Familien wie zahlreiche weitere Akteure der Revolution und der Räterepublik, darunter Eisners Privatsekretär Felix Fechenbach, sein Finanzminister Edgar Jaffé, sein Mitstreiter und späterer Mitbegründer der Ersten Räterepublik Ernst Toller, der führende Kopf der Zweiten Räterepublik Eugen Leviné und dessen kommunistischer Genosse Towia Axelrod, um nur die wichtigsten Namen zu nennen.«
Oder wie es Thomas Mann in seinem Tagebuch fast schon prophetisch festhielt: »München, wie Bayern, regiert von jüdischen Literaten. Wie lange wird es sich das gefallen lassen?«
Offensichtlich nicht sehr lange, wie sich bald herausstellte. Die revolutionären Ereignisse riefen eine Gegenbewegung auf den Plan, deren Protagonisten zwar unterschiedlichster politischer Couleur waren, deren gemeinsame Klammer jedoch eines war: ihr virulenter Antisemitismus.
MORD Sie alle erzeugten in kürzester Zeit eine Pogromstimmung, die flächendeckend zu spüren war, und zwar mit tödlichen Folgen. Am 21. Februar 1919 erschoss der junge Graf Arco-Valley, dem aufgrund der Jüdischkeit seiner Mutter der Eintritt in die Thule-Gesellschaft verweigert worden war, Eisner auf offener Straße. Auf diese Weise wollte er sich als würdig für den radikal-völkischen Verein empfehlen. Für seinen Mord erhielt Arco-Valley gerade einmal fünf Jahre Haft und wurde nach seiner Freilassung sofort vom Münchner Kardinal Faulhaber freudig empfangen – allesamt Indizien dafür, wer bei Justiz und Kirche Sympathien genoss und wer nicht.
Für Brenner ist die Behauptung, dass es sich bei den Ereignissen um eine »jüdische Revolution« gehandelt habe, nichts anderes als ein antisemitischer Mythos, der sich hartnäckig bis in die Gegenwart hält. Aber ebenso absurd sei die Schutzbehauptung der jüdischen Gemeinde von damals, dass die Akteure allesamt keine Juden mehr gewesen seien. »Es gab keinen politischen Konsens unter den jüdischen Revolutionären, geschweige denn unter der jüdischen Gemeinschaft insgesamt.«
Im jüdischen München waren die Revolutionäre nicht unbedingt beliebt.
Brenners Ansatz ist es daher, sich über das Biografische der einzelnen Protagonisten der Frage zu nähern, wie sie zu ihrem Judentum standen und inwieweit ihre Erfahrungen als Juden sie in ihrem politischen Handeln geprägt hatten. Auf diese Weise kommt die Heterogenität ihrer Positionen und Lebenswege ebenso zutage wie die Tatsache, dass die Mehrheit der Münchner Juden ihnen nicht gerade wohlgesinnt war. Zu groß war die Furcht, für die politischen Erschütterungen in Bayern mitverantwortlich gemacht zu werden, weshalb es an Abgrenzungsversuchen bis hin zu Verleumdungen auch von jüdischer Seite nicht mangelte.
NETZWERK Doch obwohl Revolution und Räterepublik nur ein kurzes Kapitel waren, sollten sie das politische Klima nachhaltig kontaminieren. »Bevor München die Hauptstadt der nationalsozialistischen Bewegung wurde, war sie bereits die Hauptstadt des Antisemitismus in Deutschland geworden«, betont Brenner.
Angefangen von der Thule-Gesellschaft über nationalistische Freikorps bis hin zu den verschiedensten Politsekten, die den Nährboden für die spätere NSDAP bilden sollten, existierte ein antisemitisches Netzwerk, das durch die Ereignisse der Jahre 1918 und 1919 zwar weitere propagandistische Munition erhielt, aber auch ohne die jüdischen Revolutionäre schon überaus wirkungsmächtig war.
Denn längst hatte man auch jenseits dieser Milieus Juden als vermeintliche Verantwortliche für den verlorenen Krieg identifiziert, die sich entweder vor dem Dienst am Vaterland gedrückt hätten oder aber als Wucherer vom Elend der Deutschen profitieren würden. Das antisemitische Gift war also längst »in die Mitte der bayrischen Politik, der Ordnungskräfte, der Justiz und der Medien« eingedrungen.
Wer diese überaus spannenden politischen Prozesse in literarischer Form nachvollziehen und verstehen will, dem sei der Roman Erfolg von Lion Feuchtwanger empfohlen. Wen darüber hinaus das Faktische auf breiter Quellenbasis interessiert, der kommt an dem Buch von Michael Brenner nicht vorbei.
Michael Brenner: »Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918–1923«. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 400 S., 28 €