»Ich wurde in den Joden Houttuinen, Ecke Uylenburgersteeg geboren, im Herzen, dem ärmsten Teil des Amsterdamer Judenviertels.« So beginnen Lin Jaldatis Erinnerungen, die sie 1986 gemeinsam mit ihrem Mann, dem Pianisten und Musikwissenschaftler Eberhard Rebling, in Ostberlin veröffentlichte.
Am 13. Dezember 1912, vor 100 Jahren, wurde das Mädchen, das als Erwachsene Westerbork, Auschwitz und Bergen-Belsen überlebte, in allen drei Lagern Anne Frank begegnete und in der DDR zur Ikone des jiddischen Liedes wurde, als Rebekka Brilleslijpers in eine niederländisch-jüdische Familie hineingeboren.
Als Kind wurde sie Lin genannt, ihren Künstlernamen kreierte ein späterer Verehrer, der sie »Jaldati« – Hebräisch für »Mein Mädchen« nannte. Ihren Willen, Tänzerin zu werden, setzte sie gegen ihren Vater durch, der seine 14-jährige Tochter mit der Bratpfanne verdrosch, als sie auf ihrem Berufswunsch bestand. Als »sehr starke Persönlichkeit« und »unbedingt ehrlich« wird sie von ihrer 1951 geborenen Tochter, der Berliner Kantorin Jalda Rebling, beschrieben.
ost-berlin Auf Jugendfotos wirkt Lin Jaldati mit ihren dunklen Augen, dichten Augenbrauen und breiten Nasenflügeln wie eine ostjüdische Schönheit, temperamentvoll und dem Leben zugewandt. Warum übersiedelte diese lebenslustige niederländische Jüdin, aufgewachsen in der Amsterdamer »Jodenhoek« – in einer Welt, in der das Leben sich auf Straßen und Marktplätzen abspielte, einer Welt, in der sich die Menschen nicht viel vormachen ließen –, 1952 ausgerechnet in die DDR?
»Ich habe lange daran herumgeknabbert, warum sie nach Ost-Berlin gegangen und geblieben ist. Es gibt viele Erklärungen, und keine greift«, sagt Jalda Rebling an ihrem Küchentisch in Berlin-Prenzlauer Berg. Ihre Mutter sei von Niederländern verraten worden, nicht von Deutschen. Und sie habe sich von der Illusion leiten lassen, dass die Führer der DDR ihre Schicksalsgenossen seien, weil sie – wie sie selbst – in Lager oder Gefängnisse der Nazis eingesperrt gewesen waren.
Doch der wichtigste Grund, warum Lin Jaldati an der Seite von Eberhard Rebling zusammen mit den beiden Töchtern nach Ost-Berlin übersiedelte, sagt Jalda Rebling, war ein ganz pragmatischer: Eberhard Rebling hatte seinen Job als Musikkritiker bei der Zeitung der niederländischen KP verloren – in Ost-Berlin wurde ihm die Chance geboten, die Zeitschrift »Musik und Gesellschaft« als Chefredakteur zu gestalten. 1959 avancierte der überzeugte Kommunist dann zum Rektor der Musikhochschule, die er 1964 in Hanns-Eisler-Hochschule umbenannte. Auch Lin Jaldati verstand ihren Umzug nach Ost-Berlin als Aufgabe. Die Schriftstellerin Anna Seghers, sagt Jalda Rebling, habe an ihre Mutter appelliert: »Wir brauchen dich hier, um die Trümmer in den Köpfen der Menschen aufzuräumen.«
amsterdam Doch ihr Leben lang sehnte sich Lin Jaldati nach dem Amsterdam ihrer Jugend zurück. Warmherzig und liebevoll, jüdisch, aber nicht fromm und oft in Geldnot: So schildert Lin Jaldati die Familie, in der sie mit ihrer Schwester Jannie und dem kleinen Bruder Jacob aufwuchs. Als Mädchen sang sie im jüdischen Kinderchor, traf sich mit Freundinnen im Haus der linkszionistischen Jugendbewegung Hashomer Hatzair, lernte jiddische und hebräische Lieder und nahm als Zwölfjährige den ersten Tanzunterricht. Ihre Lehrerin ermutigte sie zu einer professionellen Laufbahn, doch die Eltern steckten sie als Lehrling in einen Nähbetrieb.
Das Lehrgeld musste sie abgeben. Heimlich tanzte Lin weiter, gab schließlich die Arbeit in der Nähfabrik auf, wurde als Tänzerin für die Nationale Revue in Amsterdam engagiert, war aktiv im jiddischen Kulturklub Schalom Anski und gab ihre ersten Gesangsabende mit jiddischen Liedern. Sie verließ das Elternhaus, zog in eine Art Künstler-WG und lernte dort 1936 den Pianisten Eberhard Rebling kennen, einen deutschen Kommunisten, der in die Niederlande emigriert war.
Die beiden wurden ein Duo auf der Bühne und im Leben. Eberhard begleitete Lin bei ihren Tanz- und Gesangsauftritten am Klavier. Die erste Tochter, Kathinka Rebling – später wurde sie Violinistin – kam 1941 zur Welt. Da lebte das Paar bereits in der Illegalität, nachdem im Mai 1940 die deutsche Wehrmacht die Niederlande besetzt hatte. Sie schlossen sich einer Widerstandsgruppe an. Als die 1944 aufflog, konnte die kleine Kathinka bei Freunden versteckt werden. Lin und ihre Schwester Jannie kamen ins Lager Westerbork und überlebten Auschwitz, weil sie als politische Häftlinge galten. Mit dem letzten Transport wurden sie nach Bergen-Belsen verfrachtet. Bei der Befreiung wog Lin Jaldati noch 28 Kilo. Auch Jannie überlebte. Der kleine Bruder Jacob und die Eltern wurden ermordet.
karriere Nie ist Lin Jaldati über diesen Verlust hinweggekommen. »Auf der einen Seite war sie diese starke Person, aber auf der anderen Seite eine schwer depressive Frau, die tagelang nicht aus der Dunkelheit rauskam«, erinnert sich Jalda Rebling. »Oder sie sagte: ›Heute hast du keine Lust, zur Schule zu gehen, nicht wahr?‹. Und dann bin ich als Dummy mit ihr einkaufen gegangen, weil sie sich alleine nicht raus traute.« Wirklich helfen konnte ihr niemand: »Das ist die Generation, die mit Valium behandelt wurde. Sie hat Berge von Medikamenten geschluckt.« 1953 wurde Lin Jaldati mit einer schweren Depression ins Krankenhaus Berlin-Buch gebracht. »Aber sie ist abgehauen. Willst du was mit deutschen Ärzten zu tun haben, wenn du aus Auschwitz kommst? Nein!« Ihre Stütze waren ihr Mann und die Töchter Kathinka und Jalda, die gesegnet und gleichzeitig dazu verdammt sind, die Geschichte der Mutter immer wieder aufs Neue zu erzählen.
Bald nach der Befreiung stand Lin Jaldati wieder auf der Bühne, in Ost- und West-Berlin, auch im Ausland. Mit ihren jiddischen Liedern hielt sie die Erinnerung an die ermordeten Juden Europas wach. Das Publikum lag ihr zu Füßen. Bis heute erinnern sich viele Zuhörer an ihre Bühnenauftritte. Lin, inzwischen DDR-Bürgerin und SED-Mitglied – gab ein Jiddisch-Liederbuch heraus, war an den Anfängen der Singebewegung in der DDR beteiligt. Ihr Käfig war vergoldet: Auslandsreisen, von denen andere DDR-Bewohner nur träumen konnten, führten sie nach Westeuropa und in den 60er-Jahren sogar einmal nach Nordkorea.
Im zweiten Teil der gemeinsamen Memoiren, die Eberhard Rebling 1992 nach Lins Tod veröffentlichte, wird ihr Tagebuch aus dieser Zeit zitiert: »Überhaupt haben sie hier den Gigantismus, alles ist gewaltig, sehr nationalistisch, doch ich glaube, der Bevölkerung geht es noch recht mies ...« Und nachdem sie vor ausgewählten Nordkoreanern jiddische Lieder dargeboten hatte, notierte sie über eine Eisenbahnreise innerhalb des Landes: »Als ich im Zug frühmorgens pullern musste, hat unser Tourschatten mehrere vor dem WC wartende Leute weggejagt, ich durfte zuerst gehen – das fand ich widerlich.«
desillusionierung Nach dem Sechstagekrieg im Juni 1967 ließ die DDR-Führung Lin Jaldati nicht mehr offiziell auftreten. Erst 1975 wurde sie zu den Berliner Festtagen eingeladen und erlebte ein beeindruckendes Comeback. Aus drei völlig ausverkauften Auftritten im Deutschen Theater wurde eine Serie von Konzerten, jedes Jahr bis zu ihrem Tod 1988.
Ab 1979 stand Jalda Rebling auf der Bühne häufig an der Seite ihrer Mutter; 1983 reisten die beiden zusammen nach Israel. Lins Haltung zur DDR, sagt die Tochter, sei zunehmend resignierter geworden. Vor allem die Stationierung von SS-20-Raketen habe sie, die immer einen neuen Krieg verhindern wollte, deprimiert. »Lin war ein bunter Vogel und ein Grenzüberschreiter. Und wenn man ihr in der DDR die Möglichkeit zu reisen genommen hätte, wäre sie sofort weggewesen. Aber man brauchte sie auch.«
Zeitlebens eine starke Raucherin, starb Lin Jaldati am 31. August 1988 an Lungenkrebs. Ihr Enkel Jakob Kranz, heute Moderator beim rbb-Jugendsender Fritz, erinnert sich an sie als eine warmherzige Großmutter, die ihre Enkel über alles liebte und leidenschaftlich gerne kochte, zum Beispiel Nasi Goreng. Curry und Ingwer ließ sie sich von Freunden aus dem Westen mitbringen: »Es war immer Musik im Haus. Es wurde viel gelesen, gestritten, diskutiert.«
Lin Jaldati liegt auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin begraben. Ihre tiefe Stimme ist bis heute auf mehreren CDs mit jiddischen Liedern zu hören – und klingt noch bei einem Live-Konzert 1984 in Zürich, als sie schon 72 Jahre alt war und von ihrer gesamten Familie begleitet wurde, voluminös und präsent. »In ihren Liedern war so viel Freude«, sagt Jalda Rebling: »Solange sie singen konnte, war sie am Leben.«