Herr Montefiore, wann waren Sie das erste Mal in Jerusalem?
Als kleiner Junge mit meinen Eltern vor rund 40 Jahren. Teddy Kollek, der damals Bürgermeister war, führte uns persönlich durch die Stadt. Das hatte natürlich mit unserer Familie zu tun, die ja eine besondere Beziehung zu Jerusalem hat.
Durch Ihren Vorfahr Sir Moses Montefiore, der im 19. Jahrhundert die ersten neuen jüdischen Viertel Jerusalems bauen ließ sowie die berühmte Windmühle, eines der Wahrzeichen der Stadt.
Sir Moses Montefiore war von Jerusalem regelrecht besessen. Er hat die Stadt sieben Mal besucht, was zu seiner Zeit eine gewaltige Leistung war. Daheim in England ließ er das Wort »Jerusalem« überall anbringen: an seiner Kutsche, eingraviert auf dem silbernen Besteck, sogar am Bett. Auch auf dem Familienwappen der Montefiores steht in hebräischen Lettern »Jiruschalajim«. Sie sehen das hier auf meinem Siegelring.
»Jerusalem« heißt auch Ihr neues Buch. Mit einem ungewöhnlichen Untertitel: »Eine Biografie«. Eine Biografie schreibt man gewöhnlich über eine Person.
Das ist Jerusalem auch. Schon die biblischen Propheten nennen es eine Frau. Eine schöne Frau, manchmal verlassen von ihren Liebhabern. Mir hat dieses romantische Bild gefallen. Deshalb schreibe ich in dem Buch stets »sie«, wenn von Jerusalem die Rede ist.
Eine schöne, gelegentlich aber auch ziemlich blutrünstige Dame. Die etymologische Wurzel des Namens Jerusalem – Stadt des Friedens – ist jedenfalls eine ziemliche Fehlbezeichnung. Es gibt Passagen in dem Buch, die sich lesen wie das Drehbuch eines Splatterfilms.
Ich bin gelegentlich gefragt worden, ob ich nicht mit etwas weniger Blut und Leichen hätte auskommen können. Aber die gehören nun mal dazu. Jerusalem ist dennoch nicht bloß die umkämpfte, finstere, vorurteilsbeladene Stadt, wie sie so oft in den Geschichtsbüchern auftaucht. Ich versuche, auch die andere Seite zu zeigen, das Jerusalem der Lieder, der Frauen, des Tanzes, der Liebesaffären.
Sie verknüpfen die »große« Historie mit der Alltagsgeschichte.
Man kann das Buch als eine Art Epos lesen, in dem es um Könige, Propheten, Eroberer, Dichter und, last, but not least, Huren geht. Für mich ist die Geschichte Jerusalems aber auch und vor allem eine Geschichte der Familien, die dort gelebt haben und leben, von den Anfängen bis heute. Berühmte Familien und unbekannte, jüdische, arabische, armenische Familien, nicht zuletzt meine eigene.
Sie bezeichnen Ihr Buch auch als eine »Studie über Heiligkeit«. Was macht die besondere Heiligkeit Jerusalems aus?
Die ist eine Art Ansteckung. Jeder Eroberer Jerusalems, jeder Prophet, jede Glaubensrichtung hat die Mythen der Vorgänger übernommen und für eigene Zwecke umgewidmet. Man kann auch sagen, sie haben geklaut: die Geschichte, die Schriften, die heiligen Stätten. Die Juden waren die Ersten, die das taten – ursprünglich war Jerusalem wahrscheinlich ein kanaanitischer Opferplatz. Und alle aufeinanderfolgenden Herrscher Jerusalems – Juden, Römer, Kreuzfahrer, Muslime, Briten, dann wieder Juden – haben die Stadt und ihre Historie stets als ihr exklusives Eigentum beansprucht. Das ist einer der wesentlichen Gründe für die Gewalt, die die Geschichte der Stadt bis heute durchzieht. Das und der Monotheismus. Wenn man an einen einzigen Gott glaubt und an eine einzige Wahrheit, ist für Andere natürlich kein Platz.
Eine Falle, in die Sie nicht tappen wollten. Sie sind jüdisch, legen aber großen Wert darauf, dass Ihr Buch keine jüdische Geschichte Jerusalems ist.
Es hätte keinen Sinn gemacht, ein jüdisches oder zionistisches Buch zu schreiben. Auch kein palästinensisches oder christliches. Die gibt es bereits – und sie sind in den meisten Fällen ziemlich schlecht. Die viele Arbeit an dem Buch hatte für mich nur Sinn, wenn dabei etwas herauskommen würde, das allen Glaubensrichtungen und Nationen gerecht wird. Was natürlich eine Riesenherausforderung ist, wenn man Jude ist und ein Montefiore dazu.
Bei Ihren Recherchen auf der jüdischen und israelischen Seite hat das nicht geschadet. Wie sah es aus bei den Palästinensern, bei Muslimen und Christen?
Ich habe mit den alten Jerusalemer palästinensischen Familien gesprochen, mit muslimischen und christlichen Würdenträgern. Dabei habe ich nie verleugnet, wer und was ich bin. Das hat sehr geholfen. Offenheit ist in Jerusalem eine Tugend. Der Name Montefiore war dabei kein Hindernis, im Gegenteil. Bei den großen palästinensischen Familien habe ich eine Sehnsucht erlebt nach der Zeit, als die Montefiores und Rothschilds in Jerusalem aktiv waren. Ich wurde dort quasi als einer von ihnen angenommen, als echter Jerusalemer – im Gegensatz zu den Israelis heute.
Ihre familiäre und eigene Liebe zu Jerusalem ist aber nie so weit gegangen, dass Sie dort leben wollten?
Nein. Der Einzige aus unserer Familie, der Alija gemacht hat, ist mein Bruder Adam. Der lebt aber nicht in Jerusalem, sondern in der Nähe von Tel Aviv. Ich selbst bin und bleibe ein stolzer englischer Jude. Aber Jerusalem ist Teil meines Lebens. »Le schana haba’a bi Jiruschlajim« ist nicht nur etwas, das ich beim Seder sage. Gerade war ich in der Stadt, um für die BBC einen Dokumentarfilm zu drehen. Und der nächste Besuch ist schon gebucht.
Ihr Buch beginnt in der Prähistorie und endet in der Gegenwart, beim arabischen Frühling. Der scheint momentan in eine islamistische Regression zu münden. Der arabische Ton Israel und den Juden gegenüber wird immer feindseliger. Wie stehen angesichts dessen die Chancen, dass Jerusalem je seinem Namen gerecht werden und es dort Frieden geben wird?
Ich bin Optimist. Letztendlich, glaube ich, gibt es für beide Seiten vernünftige und zwingende Gründe, Frieden zu schließen. Aber, großes Aber: Gerade Jerusalem besitzt enormes irrationales Potenzial. Wie die Sache ausgeht? In vierzig Jahren wird die Stadt entweder friedlich von Juden und Arabern gemeinsam bewohnt werden – oder sie wird zerstört sein.
Simon Sebag Montefiore: »Jerusalem. Die Biografie«. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff und Waltraud Götting. S. Fischer, Frankfurt/M. 2011, 88 S., 28 €