Philosophie

Jenseits von Konvention und Utopie

»Jeder von uns möchte den anderen nicht überleben müssen«: André Gorz (1923–2007) und seine Frau Dorine, mit der er sechs Jahrzehnte verheiratet war Foto: Ullstein

Ein Jahr vor seinem Tod wurde er noch einmal richtig berühmt: In Frankreich, kurz darauf auch in Deutschland, wurde André Gorz’ schmales Büchlein Brief an D. zu einem veritablen Bestseller, über alle politischen und Generationengrenzen hinweg. Es war eine Liebeserklärung an seine englische Ehefrau, die ihn, den 1923 in Wien als Gerhard Hirsch Geborenen, zeitlebens zärtlich als ihren »Austrian Jew« bezeichnete. Am 22. September 2007 schieden dann beide aus dem Leben, seit Langem von schmerzhaften Krankheiten gezeichnet, vor allem aber in der Sorge um den jeweils anderen, dessen Alleinsein unerträglich gewesen wäre.

Vereint bis in den Tod – das schreibt sich so schnell hin, ist längst zur Phrase verkommen und erhält doch im Fall von Dorine und André Gorz neue Glaubwürdigkeit. Gerade nämlich, weil Gorz, der agnostische Jude aus Wien, dem nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 die Übersiedlung in die Schweiz und später nach Frankreich geglückt war, sonst eher ein Experte für die Dekonstruktion des Gängigen war.

Pseudonyme Das begann bereits mit der eigenen Familie: Den als autoritär erlebten Vater beschrieb Gorz als einen wohlhabend-selbstzufriedenen Zeitgenossen, der mit Hitler sehr wohl hätte leben können, hätte es nicht den Antisemitismus gegeben. Die vermeintlich idyllische Schweiz erlebte der Schüler und spätere Student als engstirnig und in ihren Institutionen auf subtile Weise ebenfalls judenfeindlich.

Die neue Wahlheimat Frankreich erschien dagegen als ein Ort freier Debatten, den er bald für sich zu nutzen wusste – mit dem neuen Namen André Gorz und zahlreichen Pseudonymen, unter denen er in den damals tonangebenden Zeitschriften L’Express und Le Nouvel Observateur publizierte.

Dass deren Herausgeber Jean-Jacques Servan-Schreiber und Jean Daniel ebenfalls säkulare Juden waren, spielte insofern eine Rolle, als alle drei eine Verantwortung für das Universelle spürten, für ein Thematisieren von Problemen, die die ganze Welt betrafen. Will heißen: gegen die sowjetischen Überfälle auf Budapest und Prag, jedoch auch gegen den Vietnamkrieg, gegen den französischen Kolonialismus und die Arroganz der konservativen Eliten.

Erwerbsarbeit Bei Gorz, dem wahrhaft undogmatischen Linken, folgte dann bald darauf noch die Skepsis gegenüber den Heilsversprechen der marxistischen, aber auch der sozialdemokratischen Weltverbesserer und deren Fetischisierung der Erwerbsarbeit. (Die jetzige Wanderung der Utopie »Vollbeschäftigung« ins Wahlprogramm der CDU hätte ihn, den ironisch sanften Zeitbeobachter, gewiss amüsiert.)

Seine in den 70er- und 80er-Jahren erschienenen Schriften wie etwa Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus oder Kritik der ökonomischen Vernunft wurden im seinerzeit entstehenden alternativ-ökologischen Milieu geradezu verschlungen und eifrig diskutiert.

Gorz stellte jedoch kein Wolkenkuckucksheim in Aussicht, sondern grub viel tiefer und beschäftigte sich bereits damals mit den strukturellen, aber auch den mentalen Konsequenzen des zu Ende gehenden Industriezeitalters.

Friedensbewegung Als er jedoch die politische Naivität der westdeutschen Friedensbewegung kritisierte, war das Entsetzen groß, und Rudolf Bahro, der trotz DDR-Haft zeitlebens mit totalitären Visionen spielende damalige Öko-Papst, warf in einem »Spiegel«-Artikel Gorz mit durchaus antisemitischem Unterton vor, als »eingebürgerter Franzose« viel zu unkritisch mit seiner neuen Heimat zu sein. Dessen Replik war lapidar: »Ich habe vier tschechische Großeltern, davon waren zwei jüdisch. Ich bin nicht mehr Franzose als Ludwig Wittgenstein Engländer, Paul Feyerabend Kalifornier und Ivan Illich Mexikaner.«

Vor allem aber galt, was er bereits zuvor der westdeutschen Linken gesagt hatte: »An Stelle von Breschnew hätte ich keinerlei Achtung für Leute, die imstande sind, sich gegen die Startbahn West in Frankfurt, gegen das Atomkraftwerk Brokdorf und gegen Pershing 2 zu mobilisieren, die aber den Völkermord in Afghanistan, die biologischen Waffen der Sowjetunion, die SS 20 und den Warschauer Putsch stillschweigend hinnehmen.«

Sympathisch, dass gerade solche Aspekte Erwähnung finden in dem Sammelband André Gorz und die zweite Linke, den jetzt Claus Leggewie und Wolfgang Stenke im Berliner Wagenbach-Verlag herausgegeben haben. Und doch ist das Eindringlichste, was von diesem Ausnahmedenker bleibt, wohl tatsächlich der Brief an D., jene Liebeserklärung, die gerade wegen ihres Verzichts auf Pathos zutiefst erschüttert und berührt.

Abbitte Denn es ist gleichzeitig eine Abbitte. Gorz, der bereits 1957 in seinem Buch Der Verräter (mit einem Vorwort von Jean-Paul Sartre) eine intellektuelle Autobiografie vorgelegt hatte, hatte nämlich damals bei allen hochgelehrten Reflexionen über Diktatur und Demokratie, Entfremdung und Utopie schlicht das Wesentliche vergessen zu erwähnen – seine Liebe zu Dorine, deren Liebe wiederum ihm die Energie schenkte für sein widerständiges Schreiben. Und nun, kurz vor dem Ende: »Soeben bist Du zweiundachtzig geworden. Und immer noch bist Du schön, anmutig und begehrenswert. Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe Dich mehr denn je ... Jeder von uns möchte den anderen nicht überleben müssen.«

In ihrem gemeinsamen Testament überschrieben Dorine und André Gorz ihr Haus in der französischen Champagne einer Hilfsorganisation. Der Erlös aus dem Einkommen dient nun zur Unterstützung für Flüchtlinge und Asylsuchende. Zu den großen glücklichen Liebespaaren der Geschichte – zu Abraham und Sara, zu Baucis und Philemon – gesellen sich ab nun auch André und Dorine.

Claus Leggewie/Wolfgang Stenke (Hg): »André Gorz und die zweite Linke. Die Aktualität eines fast vergessenen Denkers«. Wagenbach, Berlin 2017, 172 S., 13,90 €

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