Sie kennen vielleicht die ständige Ausstellung des Jüdischen Museums Hohenems. Sie ist im ersten Stock, und es gibt dort eine »Peepshow«. Wenn Sie hineinschauen, sehen Sie Theodor Herzl, wie er über dem Rhein steht, am Dreikönig-Hotel in Basel, jenes berühmte Foto, das den Visionär des Staates der Juden 1897 beim Ersten Zionistischen Kongress zeigt. Immer, wenn ich dieses Foto sehe, auf dem er wie ein Prophet aussieht, dann frage ich mich, was Herzl eigentlich gesehen hat?
Bevor ich Sprecher der Knesset wurde, war ich Präsident der Zionistischen Weltorganisation, eine Position, die Herzl begründet hatte. Und ich habe mich immer Folgendes gefragt: Was wäre geschehen, wenn Dr. Herzl in Wien über die Straße gegangen wäre und an die Tür eines anderen jüdischen Doktors geklopft hätte, an die Dr. Freuds, und gesagt hätte: »Doktor, ich habe einen Traum.« Freud hätte geantwortet: »Bitte legen Sie sich dorthin, da ist die Couch.«
brüche Vor anderthalb Jahren wurde eine internationale Vergleichsstudie zum Grad der Zufriedenheit verschiedener Nationen gemacht. Die israelische Gesellschaft hat es auf Platz 14 in der Welt geschafft. Ich weiß nicht, wie das geschieht, wie das funktioniert, aber so ist es. Und vielleicht liegt der Schlüssel hier. Wenn ich meine Mutter gefragt habe: »Mama, bist du eine Optimistin oder eine Pessimistin?«, dann hat sie mir geantwortet: »Ich? Natürlich bin ich eine Optimistin. Heute ist es viel besser als morgen.«
Ich selbst habe vielleicht eine andere Vorstellung von Optimismus, aber für viele Menschen ist heute ein guter Tag. Ist es ein guter Tag im Vergleich zu dem, was unsere individuelle oder kollektive Vergangenheit anbetrifft, oder ein guter Tag im Vergleich zu dem was – Gott behüte – geschehen könnte, ich weiß es nicht. Aber heute haben Sie an einem guten Tag an meine Tür geklopft.
In der Vergangenheit war es so: Wenn Sie nach Israel kamen und jemand versuchte, Ihnen die israelische Gesellschaft zu erklären, dann hat er Ihnen etwas über die vier, fünf, sechs zentralen Spaltungen, Brüche, Herausforderungen der israelischen Gesellschaft erzählt. Der erste Bruch wären die Spannungen zwischen Juden und Arabern, sowohl die zwischen den Juden im Nahen Osten vis-à-vis ihren arabischen Nachbarn im Allgemeinen, als auch zwischen Palästinensern und Israelis im Besonderen. Politische Spannungen und Herausforderungen!
Die zweite Kluft wäre die zwischen Religiösen und Säkularen, Frommen und Weltlichen, allgemein gesprochen der Konflikt um die Trennung von Staat und Religion, zwischen dem Souverän und den Rabbinern. Dann gibt es die ethnischen Spannungen zwischen Aschkenasim und Sefardim, zwischen den Juden, die in der christlichen Hemisphäre lebten, und jenen, die in der muslimischen Hemisphäre lebten. Und zuletzt natürlich die Spannung zwischen den Neueinwanderern und den Veteranen.
überlagerungen Das war das Bild, aufgelöst in Spannungen um Religion, Politik und Ethnien, Zentrum und Peripherie, Eingesessenen und Newcomern. Das haben Sie überall: Einwanderung und Phobien, religiöse und soziale Spaltungen. Aber in Israel überlagern sich diese Konflikte auf besondere Weise.
Nehmen wir an, Sie wollen die besetzten Gebiete aufgeben? (Wenn’s drauf ankommt sind es übrigens nicht so viele, die dazu wirklich bereit sind.) Okay, das ist eine politische Entscheidung. Man hat diese Gebiete besetzt, nun will man sie wieder verlassen, das ist eine Frage von politischen Verhandlungen und Vereinbarungen. Sozusagen ein diplomatisches Immobiliengeschäft. Mein Stück Land, dein Stück Land.
Aber sobald man sich dem etwas nähert, springen dir 20.000 Rabbiner ins Gesicht und erklären dir: Nein, nein, nein, dieses politische Immobiliengeschäft ist ganz und gar unmöglich, denn es ist religiös verboten. Etwas, das also ein politisches Streitthema zwischen rechts und links zu sein scheint, ist in Wirklichkeit ein Thema im Verhältnis zwischen Religion und Staat. Und ich kann Ihnen 20 andere Beispiele dafür geben, wie die ethnischen, ökonomischen, religiösen und politischen Spaltungen sich gegenseitig überlagern und es so schwer machen, sie aufzulösen.
utopien Aber inzwischen gibt es über diesen klassischen Brüchen der israelischen Utopie eine neue, ganz andere Ebene von Fragen. In Wirklichkeit ist Israel heute auf vier verschiedene Arten und Weisen gespalten, die Welt zu sehen, vier Denkschulen, vier verschiedene israelische Utopien.
Die erste Gruppe ist die Gefolgschaft Gottes. Ganz egal ob Juden, Christen oder Muslime, diese Leute sprechen direkt zur ultimativen göttlichen Quelle der Autorität, ihr allein gegenüber fühlen sie sich verantwortlich, sie machen keine Kompromisse. Sie können sie religiöse Fundamentalisten nennen, aber das ist nur eine äußerliche Benennung. Von innen, als Individuen, sind es einfach Menschen mit einem naiven Glauben, die ihre Inspiration, und damit auch ihre Gebote, nur von einer göttlichen Instanz entgegenzunehmen bereit sind.
Die zweite Gruppe in der Region sind die Territorialisten, sie mögen Israelis sein oder Palästinenser. Das sind Menschen, die völlig unbeirrt von allen politischen Umständen sich dem Land verschrieben haben, dem Boden. Sie sind mit dem Boden verheiratet, als Gruppe und als Individuen. Es ist eine Frage der Liebe, es ist eine Affäre, eine Hingabe, eine Frage von Emotion und Sinnlichkeit. Sie mögen Israelis sein oder Palästinenser, Juden, Christen oder Muslime, aber das Land, der Boden, ist ihre identitätsstiftende Idee.
Die dritte Gruppe nenne ich die Verehrer des Staates. Für diese Leute ist der Staat nicht nur ein Rahmen oder ein Werkzeug, dazu da, die Bildungsinstitutionen oder die Ökonomie, die Abwasserentsorgung oder Ausstellungen zu organisieren oder zu ermöglichen, sondern etwas anderes. Es ist ein Konzept, ein beinahe religiöses Konzept. Mein Vater glaubte daran, dass der Staat Israel die Morgendämmerung unserer Erlösung ist. Das hatte mit Eschatologie zu tun, mit dem Ende aller Tage. Es ist überladen mit Erwartung, es schleppt ein Extragepäck mit sich herum, das nichts mit den Interessen des Individuums, seiner Nahrung und seinen Werkzeugen zu tun hat. Das ist kein Glas Milch, das wir trinken, und nicht das Mikrofon, durch das ich spreche. Es hat eine eigene Substanz.
Die letzte Gruppe, von der ich spreche, und im Moment wird sie eher kleiner als größer, sind die Advokaten des Menschlichen. Die Gruppe derer, in der das menschliche Wesen, das Individuum, seine oder ihre Rechte, ihre Bedürfnisse und Freiheiten im Zentrum des Denkens stehen. Und die Kommunikation zwischen jenen, die nur Gott folgen oder die den Boden verehren, die den Staat vergöttern oder für den Menschen sprechen wollen, diese Kommunikation läuft nicht gut. Vielleicht haben wir noch gar keine Sprache, gar kein Vokabular für dieses Gespräch.
familie Bis jetzt dreht sich alles im Nahen Osten um »Teilung«. Ich bin hier, du bist da, dies ist meins, das ist deins, das ist meine Familie, das ist deine Familie, das ist mein Land, das ist dein Land. Immer geht es um Teilung, um Trennung, um Abschottung, um »Partition«.
Können wir der Öffentlichkeit, können wir den Kollektiven, können wir den Individuen eine Herangehensweise an den Konflikt bieten, die eine Alternative zur Logik der Teilung darstellt? Eine Logik, die uns keinen Schritt weiter gebracht hat.
Die nur noch weitere Zerstörung von Gemeinsamkeiten bewirkt hat! Morgen, so will es der Zufall, reisen wir gemeinsam, Israelis und Palästinenser, nach Brüssel, um dem Europäischen Parlament eine andere Logik vorzustellen, die Logik einer neuen familiären Situation, eines neuen Familienstands, eines neuen matzav mischpachti im Nahen Osten.
Die Familie der Israelis und die Familie der Palästinenser würden sich vielleicht gerne in einem anderen Porträt wiederfinden, als dem, das wir alle kennen, dem Porträt des Konflikts und der Feindseligkeit, dem Porträt derer, die einander misstrauen, dem Porträt des »Mein Trauma ist größer als dein Trauma«.
Wir würden gerne ein anderes, positiveres, empfindsameres Porträt des Nahen Ostens anbieten, für uns selbst und für die Welt. Das Profil dieses Porträts lautet: Achte darauf, was die Menschen dir erzählen, und nicht unbedingt darauf, was Leute dir darüber erzählen, was andere sagen würden.
Avraham Burg wurde 1955 in Jerusalem als Sohn des israelischen Innenministers Josef Burg geboren. Nach dem Militärdienst als Fallschirmjäger und dem Studium der Sozialwissenschaft engagierte er sich in der Arbeitspartei und wurde 1992 in die Knesset gewählt. 1995 übernahm er den Vorsitz der Jewish Agency. Von 1999 bis 2003 war Burg Präsident des israelischen Parlaments. Seit seinem Ausscheiden aus der Knesset 2004 ist er in der außerparlamentarischen Friedensbewegung aktiv, unter anderem als Direktor des linken Thinktanks »Molad – Center for Renewal of Democracy«. Avraham Burg ist verheiratet und hat sechs Kinder. Er lebt in Nataf bei Jerusalem.
Der vorliegende Text ist die gekürzte Fassung einer Rede, die Avraham Burg am 20. April zur Eröffnung der Ausstellung »Familienaufstellung. Israelische Porträts von Reli und Avner Avrahami hielt« (prelive.juedische-allgemeine.de/article/view/id/15774). Die Übersetzung besorgten Hanno Loewy und Gertraud Auer.
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