Mein Sohn David nennt seinen Vater »Doitscha«. »Hey Doitscha! Komm mal runter, du Doitscha! Doitscha, entspann dich …« – und derlei Varianten mehr. Die Anlässe sind verschieden. Schlechte Laune, gute Laune, das Ergebnis klingt immer gleich: »Ey Doitscha, wie bist du denn drauf?« Ich weiß, das ist nicht nur grammatikalisch fragwürdig, es ist auch komplett daneben.
Das Ganze findet meist zur Abendbrotzeit statt, gegen 20 Uhr, eine Uhrzeit, zu der in Familien allgemein die Bombe zu ticken beginnt: Nach einem wie auch immer gearteten Arbeitstag muss man für ein gesundes Abendessen sorgen, Lateinvokabeln abhören, dem kleinen Sohn das Duschen schmackhaft machen. Georg, als Westfale in der Regel die Verkörperung edlen Stoizismus, haut auf den Tisch, dass die leckere Soße auf meine neue Bluse spritzt, und brüllt. Respekt klagt er ein und ein anderes Sprachniveau. Es folgt Geschrei auf beiden Seiten, mir vergeht der Appetit. Sammy, Davids jüngerer Bruder, verzieht sich in sein Zimmer. David setzt sich Kopfhörer auf, nimmt die Zeitung, schaltet auf stur.
enklave »Es ist sowieso gesünder, mittags zu essen, als sich abends den Bauch vollzuschlagen«, seufze ich. Das sei zwar richtig, verfehle aber das Thema, bemerkt Georg. Er stammt in vierter Generation aus einer Lehrerfamilie, das kann man nicht so schnell abschütteln. Aber er hat recht. »Doitscha« zu sein, ist an sich schon nicht einfach. »Doitscha« in einer jüdischen Enklave zu sein, ist doppelt bitter, weil der »Doitscha« dort weniger wert ist. Klar, das klingt absurd, ist absurd, und in dieser Deutlichkeit wird es natürlich von niemandem ausgesprochen – aber es ist, wie es ist.
Gutmeinende könnten nun anführen, dass sich das Verhältnis zwischen Juden und Deutschen mittlerweile zum Positiven gewendet haben müsste. Bald jähre sich zum 70. Mal das Kriegsende, fast alle Überlebenden seien tot. Ein Neuanfang habe stattgefunden. Ja, ja, ja. Im Bundestag sicher, hier bei uns zu Hause ist von Kriegsende nichts zu spüren, und zu Hause, das ist die Realität.
genetik Da Georg völlig richtig vermutet, ich würde im tiefsten Innern auch so denken, bekomme ich zur Strafe die Aufgabe, unserem Sohn klarzumachen, dass auch er zu mindestens 50 Prozent Deutscher ist. Das sei nun mal einfachste Genetik. Da ich wiederum weiß, dass David gerade das nicht gerne hört – er wäre gerne Israeli oder zumindest 100 Prozent jüdisch –, gehen wir am nächsten Tag Sushi essen; wenn schon unangenehme Tätigkeiten, dann wenigstens in erlesener Umgebung.
Ich hole weit aus, Respekt und Dankbarkeit, bemühe das Alte Testament, das vierte Gebot »Du sollst Vater und Mutter ehren«. David winkt nicht nur gelangweilt ab, er grinst dabei auch noch, tappt nicht in die biblische Falle, stattdessen schlägt er mit den »deutschen Tugenden« um sich, von denen sein Vater seiner Meinung nach zu viele habe. »Er ist zu ernst, zu verkrampft, stellt absurde Regeln auf, schweigt zu viel, kann nicht verlieren …«
»Sprichst du über dich?«
»Wo hast du nur diesen Menschen her?«, fragt er mich, ohne mit der Wimper zu zucken. »David, Vorsicht, du gehst entschieden zu weit.« (...)
gerangel Abends beim Tatort schlafe ich ein. Weder der Tatort noch ich sind das, was wir mal waren. Ich schleppe mich ins Bett, ohne abzuwarten, wer der Mörder ist.
Lärm weckt mich, Gepolter, das Licht geht an. Vater und Sohn ringen miteinander. Sie fallen auf mein Bett, rollen sich ab, kämpfen auf dem Boden weiter. Beide sind außer sich, David knallrot, sein Vater kreidebleich, ich ziehe meine Füße und Beine aus dem Gefecht. Abwechselnd stürzen sie raus auf den Balkon und brüllen etwas wie »Ich bin der Stärkere«, dann geht es ungehemmt weiter. Es könnte unter Umständen fast komisch sein. Natürlich ist es nicht in Ordnung, wenn Vater und Sohn sich prügeln. Aber das hier ist keine amtliche Schlägerei, eher ein Kräftemessen zwischen der Jugend und dem Alter, nicht ganz ungefährlich, mächtig archaisch. David in Boxershorts, obenherum nackt, sein Vater inzwischen auch ohne Hemd, das hat ihm sein Sohn vom Leibe gezerrt.
David schreit: »Ich hau ab! Mich seht ihr hier nie wieder!« Sein Vater brüllt: »Das wollen wir doch mal sehen!«
Während ich überlege, wie ich eingreifen könnte, ohne mich zu verletzen, klingelt es. Der Nachbar von gegenüber hat die Ordnungsmacht informiert, zwei Männer in kompletter Kampfuniform kommen die Treppen hoch. Kampfuniform? Was haben sie erwartet? Eine Erste-Mai-Demo im Berliner Zimmer? David versucht, an ihnen vorbeizurennen. »Wo willste denn hin, Kleena, in dem Aufzug? Musste uffpassen, kann hier in Schöneberg leicht falsch aufjefasst wern.« Sie bringen ihn zurück, passen selbst nur schräg durch die Tür, so bullig sind sie. Ich werfe einen Pullover über mein Negligé. Das hier ist kein Spaß, unten wartet vermutlich eine Wanne weiterer Ordnungshüter in voller Kampfausrüstung.
polizei »Wie froh ich bin, dass die Yellow Press sich nicht für mich interessiert«, flöte ich entschuldigend den beiden Polizisten zu, die in Zeitlupe ihre Knüppel wegstecken. Dann nehmen sich die beiden meine Männer vor, ich habe dort nichts mehr verloren. Es geht um Testosteron, wie samstags bei der Sportschau. Vorsichtig mache ich die Tür zu Sammys Zimmer auf, er schläft selig wie ein Baby. »Ich weiß, dass es eigentlich unter aller Kanone ist, wegen häuslicher Gewalt die Polizei im Haus zu haben. Aber was kann ich machen?«, frage ich unschuldig den Polizeibeamten.
Der türkisch-deutsche Kollege erklärt mir ausführlich, dass sie Anklage erheben könnten, eigentlich sogar müssten, es aber nicht täten, der Fall hier sei doch ganz klar. Der Junge wisse vor lauter Kraft und Unsicherheit nicht, wohin mit sich, der Vater ebenso wenig. Und in so »jemischten« Haushalten sei es nie ganz einfach, das sei normal, woher wir die schönen Möbel hätten?
Wie zuvorkommend und kompetent diese Berliner Polizisten doch sind. Wieso sind sie nicht schon bei einer früheren Gelegenheit vorbeigekommen? Im Wohnzimmer plaudert der polnisch-deutsche Polizist mit David und seinem Vater. »Det is der Psychologe, ick bin der Intellektuelle«, erklärt mir sein Kollege. Gleich werde ich anfangen, Pasta zu kochen, wenn es hier so nett und gemütlich weitergeht.
herausforderung Ja, das sei nicht einfach, meint Emre, inzwischen sind wir beim Du, in einem deutsch-jüdischen Haushalt prallten sehr unterschiedliche Welten aufeinander. Das sei für die Kinder wie für die Erwachsenen eine echte Herausforderung. Er kenne sich aus mit dem »jemischten Zeuch«, seine Mutter sei Türkin, der Vater aus Steglitz. Im Bücherregal findet er mein Buch, geschmeichelt schenke ich es ihm, es ist das erste Mal, dass ich im Nachthemd signiere.
Seit Jahren schlagen wir uns mit Lehrern und Psychologen rum, und da kommen zwei Berliner Bullen mitten in der Nacht und bringen die Sache in drei einfachen Sätzen auf den Punkt.
Der Einsatzwagen wird informiert, die Krise ist deeskaliert, die Ordnungsmacht verabschiedet sich, wünscht eine gute Nacht. Was für nette Jungs doch bei der Polizei arbeiten! Ich werde beim Regierenden Bürgermeister anrufen und mich für diese Engel in Uniform persönlich bedanken.
Vater und Sohn planen eine dreitägige Klausur, sie wollen sich aussprechen. (...)
David erzählt Ich möchte mal folgende Geschichte zum Besten geben, um endlich einmal klarzustellen, was für eine miese, ungerechte Position ich zu Hause habe.
Jüdische Oberschule zu wegen der Hohen Feiertage. Mit Wochenenden eingerechnet insgesamt fast zwei Wochen. Sauber, schülerfreundliche Religion. War schon Rosch Haschana in der Synagoge, war ganz cool, alle da. Ich in Weiß mit Lederschuhen. Das volle Programm. War in der Joachimstaler. Haben bisschen rumgebetet, war tierisch laut, Tora getragen, im Hof gestanden. Der ist mit der zusammen, die mit dem, na ja. Kennt man ja alles. Ist Jom Kippur. Stehe gleich auf, gehe wieder hin, die andern treffen, besser, als den ganzen Tag alleine rumhängen. Vielleicht ist ja auch eines der Mädels da?
Höllenlärm aus dem Zimmer meiner Mutter. Ist das Musik? Ich brülle drüber. »Mama, gut’n Morgen. Ich gehe heute in die Synagoge, unserer Toten gedenken. Was dagegen? Die Schule ist eh zu über die Hohen Feiertage. Kann ich jetzt los?«
»Was? Hör mal: La Cenerentola, Finale, zweiter Akt, Septett. Grandios! Mach ich im Linzer Opernhaus …«
synagoge Sie stellt endlich die sogenannte Musik leiser. »Seit wann treibt es dich so oft in die Synagoge? Habe ich etwas verpasst? Du hast doch schon das ganze Neujahrsfest da verbracht! Jetzt willst du auch noch den ganzen Tag fasten? Muss das unbedingt in der orthodoxen Synagoge sein? Muss ich mir Sorgen machen? Erst die religiösen Feiertage mitsamt Brückentagen, dann die Herbstferien. Wann lernst du eigentlich mal für die Schule? Das Abi kommt nicht mit dem Storch. Hier, hör mal diese Stelle: Questo nodo … Besser geht’s gar nicht. Rossini ist das wahre Genie, von wegen Wagner. Ich möchte wirklich gerne wissen, wann ihr etwas lernen sollt. Ihr müsst euch doch vorbereiten auf das Auserwähltsein, auf die Weltherrschaft. Du hast bald Klausuren, die der liebe Gott dir nicht abnimmt …«
Oh Mann, ich kann’s nicht mehr hören, wer hat bei der auf Wiederholung gedrückt? Wo sind meine Turnschuhe? Haare sind okay. Deo nehme ich von Sammy. »Mama, kann ich deine Jacke anziehen, die coole, die du vom Dreh mitgebracht hast?«
»Bitte ruf mal zwischendurch an, und wenn du Hunger hast, im Kühlschrank …«
»Mama! Jom Kippur ist ein FASTENTAG! An Jom Kippur werden die zwischenmenschlichen Beziehungen geklärt, neben dem Sabbat der wichtigste Feiertag überhaupt.«
besserwisser »Natürlich, natürlich, du Besserwisser! Hat sich das Geld für die jüdische Schule doch ausgezahlt. Trotzdem ein Glück, dass Sammy in seinem altehrwürdigen deutschen Gymnasium steckt und nicht freihat. Mein Herzblatt, mir musst du Jom Kippur nicht erklären. Ich werde sofort die Musik ausmachen, und während du in der Synagoge dafür betest, dass wir alle in das Buch des Lebens eingetragen werden, gehe ich spazieren, denke an all die Fauxpas, die ich in diesem Jahr begangen habe, es sind nicht wenige, und bei wem ich mich alles entschuldigen sollte. Reicht es zu beten, oder muss ich persönlich vorstellig werden und den Schofar blasen? Was meinst du als Profi?«
»Jap, Mama, mach das mal. Prima Idee. Tschüss.« Und weg bin ich, die vier Stockwerke runter, so schnell ich kann. Damit ihr nicht noch was einfällt … zum Beispiel ihre Jacke. Draußen auf der Straße: Freiheit, Ruhe!
Sie ist echt in der Lage und kommt vorbei, um den Schofar zu blasen. Dabei dürfen das nur Männer. Wenn ich mich beeile, bekomme ich den M46 zum Ku’ damm.
mädels Warum kann ich nicht einfach in die Synagoge gehen, ohne dass zu Hause der Ausnahmezustand ausgerufen wird? Sie hat keinen Plan davon, wie es in meiner Welt aussieht. Ich habe zwei Klassen übersprungen, das muss man sich mal vorstellen. Mein Gehirn ist superschnell, mindestens wie 18, eher mehr, von meinem Körper will ich gar nicht reden. Ich bin erwachsen. Ende.
In der Synagoge schleppen sich die Gebete wie die Bundestagsdebatten auf Phoenix-TV. Sind zwar alle da, auch paar Mädels, aber die falschen. Und irgendwie kein Drive drin. Treffe zum Glück Roni, den kenn’ ich noch von der Grundschule. Dem geht’s ähnlich, stellen fest, dass beten heute nichts bringt. Dafür hat er die neueste Staffel von Homeland zu Hause. Seine Eltern, weil getrennt, den ganzen Tag in verschiedenen Synagogen. Nichts wie hin. Rufe nur kurz zu Hause durch.
»Mama, ich bin’s … nein, ich habe keinen Hunger! Ruf nur an, weil ich ’nen Freund getroffen hab’, wir beten zusammen, es wird was später. Ich komme um sieben zum Fastenbrechen nach Hause. Dann können wir Sushi essen gehen …« Klar, ist ’ne Lüge, geht aber aufs Konto vom nächsten Jahr.
Adriana Altaras: »Doitscha. Eine jüdische Mutter packt aus«.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014, 256 Seiten, 18,99 €