Herrr Leo, wenn früher vier Menschen um einen Tisch saßen, war Ihre Familie, die in den 30er-Jahren in alle Winde zerstreut wurde, vollständig versammelt. Erst zur Hochzeit Ihres Bruders in Berlin war sie wieder vereint – so schildern Sie es in Ihrem Roman »Wo wir zu Hause sind«. Haben Sie jetzt eine richtig große Familie?
Jedenfalls eine ziemlich weitverzweigte, wie sich inzwischen herausgestellt hat.
Gab es vorher schon mal das Bestreben, Ihrer Familienchronik nachzugehen?
So ein Moment ergab sich, als mein Großvater Gerhard Leo 2008 einen Schlaganfall hatte, im Krankenhaus lag und nicht mehr sprechen konnte. Da traute ich mich zum ersten Mal, selbst meine Stimme zu erheben. Zehn Jahre später heiratete mein Bruder in einem brandenburgischen Herrenhaus, und viele aus unserer Familie kamen zu Besuch. Da wurde mir plötzlich bewusst, dass es Cousinen und Cousins gab, die so alt waren wie ich und die nun in die Heimat ihrer Urgroßeltern zurückkehrten.
Etliche von Ihren Verwandten leben in England, Wien, den Niederlanden oder in Israel. Haben Sie als Kind, das im Osten Berlins aufwuchs, sehnsüchtig auf die anderen geschaut?
Klar! Bis ich auf einmal realisierte, dass nicht nur ich sehnsüchtig auf die anderen geschaut habe, die in diesen Ländern aufgewachsen sind. Viele haben voller Wehmut auch auf uns geblickt, und zwar weil wir in der Stadt lebten, aus der sie oder ihre Vorfahren einst vertrieben wurden. Ihr Sehnsuchtsort hieß Berlin.
Wie sehr spielt die jüdische Herkunft für Sie heute noch eine Rolle?
Das ist eine komplizierte Frage. Was macht das mit mir, so eine »vierteljüdische« Seele zu besitzen? In unserer Familie wurde selten darüber gesprochen, es war eine Art Tabu. Mein Großvater wollte lieber als Résistance-Kämpfer betrachtet werden. Denn jüdisch zu sein, bedeutete für ihn immer auch, Opfer zu sein. Die jüdische Herkunft ist für mich eher eine Art emotionale Zugehörigkeit.
Als Ihr Großvater in Paris lebte, verbrachte er viel Zeit in einem Haus, in dem mit Fritz Fränkel, Klaus Mann oder Egon Erwin Kisch das Who’s who der deutsch-jüdischen Intellektuellen im Exil wohnte. Was können Sie darüber berichten?
Mein Großvater hat immer davon erzählt, wie Egon Erwin Kisch ihm als Kind Zaubertricks beigebracht hatte oder er mit ihnen zusammen nach Versailles gefahren ist, wo er viel über die Französische Revolution sprach. Auch, dass sich seine Schwester Ilse sehr in Klaus Mann verliebt hatte – ohne zu wissen, dass er homosexuell war.
Jede Familie hat ihre Geschichten. Was davon entsprach der Realität, was wurde vielleicht übertrieben?
Es ist oft gar nicht so einfach festzustellen, was Mythos und was Wahrheit ist. Weil ein Mythos schnell zur Wahrheit wird, wenn man ihn nur oft genug wiederholt. Insofern muss man den Geschichten der eigenen Familie immer mit Vorsicht begegnen. Denn letztlich ist menschliche Erinnerung immer auch Fiktion.
Diese Lust am Schauspiel, am Geschichtenerzählen scheint in Ihrer Familie verankert. Auch bei Ihnen?
Es gab immer einen Hang bei uns, Geschichten zu erzählen, auch unglaublich übertriebene und erfundene. Mein jüngster Roman »Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße« ist so eine Hochstapler-Geschichte. Und ich selbst habe auch eine gewisse Veranlagung dazu. Meine Frau sagt immer, dass man von meinen Erzählungen etwa 20 Prozent abziehen muss, damit man ermessen kann, was wirklich stimmt. Ich würde sagen: Es sind eher 30.
Werden Geschichten also jedes Mal etwas anders erzählt?
Je öfter man Geschichten erzählt, umso mehr verändern sie sich. Die Umstände werden spannender, die Frauen schöner, man selbst immer mutiger. Und am Ende entsteht aus diesen Geschichten das, was wir für unser Leben halten.
Ist das ein Bestandteil des Prozesses der Erinnerung?
Ja, genau, und so entsteht auch ein Roman. Die Erinnerung ist nun einmal ein fiktiver Prozess. Jeder erinnert sich anders.
Sie waren erst Chemielaborant und haben dann Politikwissenschaften studiert. Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?
Wenn man jung ist, hat man erst mal den Drang, nicht das Gleiche zu machen wie die Eltern. In der DDR war es für mich zudem keine Option, Journalist zu werden, weil ich mich da politisch hätte verbiegen müssen. Doch dann fiel die Mauer, und bald wurde klar, dass aus mir kein Chemiker werden würde.
Zum Mauerfall 1989 waren Sie 19 Jahre alt …
Stimmt, das Timing schien perfekt. Im April 1990 habe ich mein Abitur gemacht, besser hätte man es nicht planen können. Das mit dem Journalismus war so: Man nimmt sich ja nicht vor, irgendetwas zu werden, es passiert einfach. Zunächst war ich Reporter, später Kolumnist. Bis ich mein erstes Buch geschrieben habe, sollte es jedoch etwas dauern. Bis ich dann ausschließlich Bücher geschrieben habe, also auch Krimis und Drehbücher, und schließlich davon leben konnte, sogar noch länger.
Ihr Großvater hat sich für Flüchtlinge engagiert. War das vielleicht seine Art, sich damit auseinanderzusetzen, was ihm einst als Exilant in Frankreich widerfahren war?
Er hat sich um Menschen gekümmert, die einen Asylantrag gestellt haben. Für sie hat er sich bei den Behörden eingesetzt. Ein Grund dafür war gewiss die Tatsache, dass er selbst erleben musste, was es bedeutet, sich in einem Land zu befinden, in dem man Flüchtling ist und ständig darüber besorgt sein muss, ob man vielleicht abgeschoben wird.
In Ihrem jüngsten Roman »Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße« geht es um eine fiktive Heldengeschichte. Wer oder was ist für Sie ein Held?
Jemand, der etwas tut, dessen Ausgang er nicht einschätzen kann, und dennoch ein Risiko eingeht – und zwar aus Überzeugung. Es gibt verschiedene Arten vom Heldentum.
Der Protagonist Michael Hartung rutscht wider Willen in diese Heldengeschichte hinein. Wie viel Mut erfordert es zu sagen: Ich bin gar kein Held?
Es erfordert immer Mut, nicht den Erwartungen von anderen zu entsprechen. In diese Figur wird wahnsinnig viel hineinprojiziert, was gar nicht viel mit dem Helden zu tun hat. Dabei interessiert es nicht, wer er wirklich ist. Er soll bloß der Typ sein, den alle in ihm sehen wollen.
Sind Heldengeschichten immer Projektionsflächen unserer Wünsche und Sehnsüchte?
Wir sehen ja gerade, wie der ukrainische Präsident genau das verkörpert. Er ist ein Held, weil wir alle wollen, dass er einer ist.
Vom Heldentum zum Humor – der schwingt überall in Ihren Werken mit. Ist Humor für Sie eine Überlebensstrategie?
Alles ist viel leichter zu ertragen, wenn man drüber lachen kann!
Mit dem Bestsellerautor sprach Alicia Rust.
Maxim Leo: »Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße«. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 392 S., 22 €