Etgar Keret

»Ist jetzt noch Quarantäne?«

Der israelische Autor über die Pandemie als Kreativschub, Übersetzungen und seinen Hasen

von Katrin Richter  30.08.2020 08:37 Uhr

Der Schrifsteller Etgar Keret Foto: Yanai Yechiel

Der israelische Autor über die Pandemie als Kreativschub, Übersetzungen und seinen Hasen

von Katrin Richter  30.08.2020 08:37 Uhr

Herr Keret, wie geht es Ihrem Hasen?
Sehr gut! Er ist ja ein Nachttier, und deswegen bin ich jetzt ein wenig müde. Aber er sitzt da in der Ecke, sehen Sie? Sein Name ist Hanzo, aber wir nennen ihn Hans.

Hans?
Ja, er hat eine deutsche Seite an sich. Also, in seinem Personalausweis würde Hanzo stehen – nach Hattori Hanzo, der die Samurai-Schwerter hergestellt hat und zugleich eine Figur im Videospiel »Overwatch« ist, das mein Sohn spielt. Das »z« in seinem Namen ist aber viel zu hart, er hat so etwas Weiches, und deswegen Hans. Manchmal sieht er aus wie ein Paar puschelige Hausschuhe.

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In einer Geschichte Ihres neuen Buches »Tu’s nicht« kommt auch ein Hase vor, der eine Verwandlung hinter sich hat: von einem Vater hin zum Tier.
Vor über sieben Jahren ist mein eigener Vater gestorben. Ich vermisse ihn sehr. Und manchmal, wenn ich das Bedürfnis habe, mit ihm zu reden, dann spreche ich mit meinem Hasen. Diese Vorstellung, dass der Hase ein Vater ist, ist halb biografisch. Ich bin jetzt ein Waisenkind, und wenn ich einen Rat brauche von jemandem, der verantwortungsvoll ist und weißes Haar hat, dann unterhalte ich mich mit dem Hasen.

Haben Sie für Ihre Mutter auch ein Tier?
Nein, nur für meinen Vater. Er war immer derjenige, der mir Ratschläge gegeben hat und zu dem ich ging, wenn ich Probleme hatte. Mein Hase hat diesen Platz nun eingenommen. Er ist ein sehr guter Zuhörer und hilft mir, die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Ihr Buch heißt im hebräischen Original sinngemäß »Störung am Rande der Galaxie«, im Deutschen »Tu’s nicht«.
Es hängt bei den Kurzgeschichten immer davon ab, welche zuerst im Buch vorkommt. In der deutschen Version ist es die gleiche wie in der englischen, bei der das Buch »Fly Already« heißt. Würde man das wiederum ins Hebräische übersetzen – im Original heißt die Geschichte »Ta’uf mi kan« –, hieße das so etwas wie »Verschwinde«. In der Geschichte geht es um einen Mann, der auf einem Dach steht, und ein Kind sagt zu ihm: »Nun flieg schon!« »Ta’uf mi kan« heißt, dass man nicht einfach weggehen, sondern sich so schnell davonmachen soll, dass man fast schon fliegen würde.

Ihre Geschichten scheinen perfekt in diese Zeit der Pandemie zu passen. Geschrieben wurden sie bereits vor einer ganzen Weile. Wie erinnern Sie sich an damals?
Mein Buch hat in der Tat einen Covid-19-Vibe. Aber klar: Es ist vorher entstanden. Es hat einen bestimmten Zeitgeist. Es erzählt von einer Welt, die plötzlich unsicher geworden ist: Man kann der Zukunft nicht vertrauen, alles verändert sich – ob das Technologie ist, Geopolitik, soziale Strukturen.

Haben Sie ein Beispiel dafür?
Als ich ein Kind war, installierte man den ersten Geldautomaten in meiner Heimatstadt. Meine Mutter meinte, sie würde damit nicht umgehen können, mit dieser ganzen Technik. Mein Vater sagte: Ach, das wird schon. Jahre später gibt es diesen Geldautomaten immer noch, und er funktioniert noch genauso wie damals. Aber unsere Realität, in der wir leben, sieht doch jetzt so aus, dass, wenn wir endlich gelernt haben, wie eine App funktioniert, sie schon nicht mehr aktuell ist und alle schon etwas anderes nutzen. Es hat Jahre gedauert, bis ich gelernt habe, wie Facebook funktioniert, und jetzt ist niemand mehr auf Facebook. Jetzt sind alle auf Instagram. Und es geht noch weiter: Politiker wie Trump sprechen heute abfällig über Frauen, über Minderheiten, und Menschen denken, das sei okay. So, als ob man die Regeln geändert hätte. Um diese seltsamen Dinge geht es.

Was kann denn Abhilfe schaffen?
Die größte Herausforderung ist es, den Menschen genau auf den Mund zu schauen beim Sprechen, um zu verstehen, was sie da überhaupt von sich geben. Und das hat sich unter Covid-19 alles noch einmal beschleunigt. Man wacht morgens auf und weiß nicht: Ist jetzt noch Quarantäne oder doch nicht? Kann man zur Arbeit oder nicht? Und dieses Gefühl von jemandem, der versucht, die Welt zu verstehen, die viel schneller ist als unser Gehirn, ist im Buch sehr präsent.

Wie haben Sie das vergangene halbe Jahr erlebt?
Es war die vielleicht kreativste Zeit seit meinem Armeedienst. Damit ich richtig kreativ sein kann, muss die Lage echt schlecht sein. Die Geschichten sind für mich so eine Art Fluchtplan. Wie eine Art Airbag. Und dann stoppte die Welt. Über die Hälfte meines Lebens bin ich unterwegs, halte Vorträge, mache Lesungen. Und plötzlich fühlte es sich an wie: »Vergiss, was das Leben von dir will. Was willst du machen?« Das ist für mich ein kreativer Prozess.

Also sehen Sie diese Zeit doch eigentlich ganz positiv.
Mein Vater sagte mir als Kind einmal, als ich eine Erkältung oder so etwas Ähnliches hatte, dass es keine schlimmen Momente gibt, nur schwierige und einfache Zeiten. Diese Zeit ist für mich also eher schwierig, aber wir haben das Glück, daraus zu lernen. Man kann sehr viel über sich selbst und seinen Platz in der Welt lernen. Das heißt nicht, dass ich nicht lieber meinen Lebensunterhalt verdienen würde oder lieber nicht wüsste, dass es diese Krankheit gibt, die einen treffen kann. Es ist, wie es ist. Diese Zeit ist sehr authentisch.

Sie reisen als Schriftsteller viel. Wie fühlt sich jetzt das Zuhausebleiben an?
Es ist schon seltsam. Ende Februar kam ich aus Mexiko zurück, und seitdem bin ich nirgendwo mehr hingereist. Das ist die längste Zeitspanne in den vergangenen 25 Jahren, in der ich nie in einem Flugzeug war. Ich liebe es, öffentlich zu sprechen. Und gerade ist es so eine Art Immanuel-Kant-Leben: Man geht ein wenig spazieren in der Nähe des Hauses. Der Kopf ist in einem anderen Zustand. Diese Veränderung hat mir allerdings Zugang zu Geschichten gegeben, die lange Zeit in mir verschlossen waren. Für die ich nicht den richtigen Zustand hatte, um sie aufzuschreiben.

Was war eigentlich diese Störung am Rande der Galaxie, die Ihrem Buch im Hebräischen den Namen verlieh?
Vor etwa vier Jahren hatte ich – ein wenig außerhalb von Boston – einen Autounfall. Wir waren auf dem Weg zu einem Event und stießen mit wohl über 100 km/h mit einem anderen Auto zusammen. Die Scheiben zerbarsten, die Airbags pusteten sich auf, das Auto bracht. Ich hatte zwei gebrochenen Rippen, aber dadurch, dass ich mir noch nie zuvor die Rippen gebrochen hatte und um mich herum zerbrochenes Glas war, dass es qualmte und der Fahrer verletzt war, war ich mir sicher, ich würde sterben. Ich war erst etwas hysterisch. Plötzlich aber sah ich mich selbst von oben und stieg immer höher. Ich sah erst diesen ängstlichen Mann, dann den Highway mit den vielen Autos, dann Flüsse, Boote. Und als ich mich weiter entfernte, sagte ich zu mir: Etgar, für dich endet das Leben vielleicht, aber für das Universum ist es nur eine Störung am Ende der Galaxie. Die Welt dreht sich weiter – vielleicht ohne dich, aber sie dreht sich weiter. Und in jeder der Geschichten geht es um Leben, das zerrissen oder wieder zusammengesetzt wird. All die großen Dramen, die unsere Tage ruinieren können, sind aus einer gewissen Distanz eigentlich keine.

In der Geschichte »Tabula Rasa« klonen Sie Hitler. Warum?
Diese Geschichte schrieb ich in Boston, als ich große Schmerzen hatte. Ich war im Haus eines Freundes, nahm opiumhaltige Medikamente und war in einem sehr merkwürdigen Zustand. Es waren so heftige Schmerzen, ich war in einem anderen Land, und dann diese Schmerzmittel: Ich war von meinem eigentlichen Selbst sehr weit entfernt. Ich dachte, ich könnte jetzt viele Menschen auf dieser Welt verkörpern, aber ich wurde ein Hitler-Klon. Ich habe nicht bewusst entschieden, dieser Klon zu sein. Diese Geschichte kam einfach aus mir heraus.

Für das Buch haben Sie den bedeutendsten Literaturpreis Israels bekommen, den Sapir-Preis. Und Sie durften sich eine Sprache aussuchen, in die Ihr Buch übersetzt wird. Welche haben Sie gewählt?
Jiddisch.

Warum gerade Jiddisch?
Ich dachte, wenn es ins Schwedische oder Japanische übersetzt werden würde, würde es dem Preis nicht gerecht werden. Denn es soll schon eine Sprache sein, in die sonst nicht so viel übersetzt wird. Jiddisch war außerdem die zweite Sprache meiner Eltern. Sie unterhielten sich ständig auf Jiddisch und behaupteten, dass es die komischste Sprache auf der ganzen Welt sei. Dinge sind immer lustiger auf Jiddisch.

Was ist Ihre Schreibtradition?
Ich lebe ja in Israel, aber meine Art zu schreiben ist sehr weit entfernt von der Schreibtradition hier. Amos Oz, Abraham B. Jehoschua oder David Grossman schreiben epische Geschichten, die selten lustig sind. Sie nehmen eine Art Mentorenposition ein, zeigen dem Leser einen Weg auf. Als Leser liebe ich israelische Literatur, aber irgendwann entdeckte ich, was ich das jüdische Diaspora-Modell nenne, also Kafka, Bashevis Singer, Scholem Alejchem. Autoren, die auf Augenhöhe schrieben, die vermitteln, dass ihr Leben noch schlimmer ist als das eigene. Und weil sie in dieser weltlichen, auch umgangssprachlichen Sprache schrieben, weit entfernt vom heiligen Hebräisch der Bibel, gestattete ihnen das, eine Art Intimität zu schaffen und Verletzlichkeit zuzulassen, die man in der hebräischen Literatur sonst nicht findet. Sie waren also meine Vorbilder. Und für mich war es ein wenig ein Abschluss, das Buch ins Jiddische übersetzen zu lassen.

Sie posteten kürzlich auch einen Coverentwurf für eine Übersetzung ins Kurdische. Was verbindet Sie denn mit dieser Sprache?
Ich denke dann immer an den Berg Ararat und die Geschichte von Noach, die mein Leben sehr beeinflusst hat. Ich wurde nämlich mit fünf Jahren Vegetarier, zu einer Zeit, in der es noch nicht modern war. Und deshalb gab es großen Druck von außen, damit ich wieder Fleisch essen sollte. Als ich die Geschichte von Noach las, lernte ich, dass Gott die Menschen vor der Flut vor viele Herausforderungen stellte. Eine davon war, kein Fleisch zu essen. Nach der Flut war er etwas milder und vereinbarte mit Noach, dass Fleisch zu essen erlaubt sei. Diese Geschichte gab mir die Kraft, eben kein Fleisch zu essen. Gott hat mich unterschätzt, denn wenn ich will, kann ich aufhören, Fleisch zu essen. Das ist meine Verbindung zum Ararat. Meine Geschichten sollen durch die Übersetzungen reisen können. In manche Länder kann ich mit einem israelischen Pass nicht fahren, aber die Geschichten können es.

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Vielleicht haben Sie ja demnächst auch Leser in den Vereinigten Arabischen Emiraten.
Das wäre schön. Wenn ich mir allerdings Leser aussuchen könnte, würde ich mir palästinensische Leser wünschen, denn es sind meine Nachbarn.

Wenn Sie dem Jahr 2020 einen Brief schreiben könnten, was würde darin stehen?
Dass dieses Jahr das Jahr war, in dem uns die Natur sagen wollte, dass wir hier nur Gäste sind. 2020 ist das Jahr, in dem wir den Verlauf der Geschichte ändern und neue Entscheidungen treffen können. Die Lehren, die wir aus diesem Jahr ziehen, könnten uns entweder enger zusammenwachsen lassen oder das Gegenteil bewirken.

Sie sind gerade 53 geworden. Was wünschen Sie sich?
In der Lage zu sein, das, was ich tue, mit anderen zu teilen – meine Gedanken und Gefühle, auch wenn sie Kritik nach sich ziehen. Vielleicht die beste Person zu werden, die man in dieser Situation sein kann. Aber es auf einen Wunsch reduzieren? Das ist sehr schwierig.

Mit dem Autor sprach Katrin Richter über Zoom.

Etgar Keret: »Tu’s nicht«. Aufbau, Berlin 2020, 233 S., 20 €

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