Als die Bundeskunsthalle vor ein paar Jahren eine große Ausstellung zu Goethe organisierte, standen dort am Anfang zwei einfache Holzlatten, eine lange und eine kurze. Auf der langen stand »Goethe«, auf der kurzen »Im Vergleich dazu irgendein Scheißer«. Der Künstler Georg Herold spielte mit diesem Werk darauf an, dass man sich neben Johann Wolfgang Superstar schnell sehr klein fühlen kann. Zu seinem 275. Geburtstag am heutigen Mittwoch (28. August) stellt sich allerdings die Frage, ob das überhaupt noch so ist. Denn Goethe wird weniger gelesen und weniger gespielt. Ist er überhaupt noch relevant?
Schon zu Lebzeiten ein internationaler Celebrity
Lange wäre eine solche Frage undenkbar gewesen, denn wenn in Deutschland jemand auf einem ganz hohen Sockel stand, dann Goethe. »Des deutschen Volkes besseres Selbst« wurde er genannt. Schon zu Lebzeiten war der Dichter, Naturforscher und Italien-Freund ein internationaler Celebrity.
Die Situation der Juden hat der in Frankfurt am Main geborene Dichter in seinem literarischen Werk übrigens nur einmal prominent thematisiert, nämlich in Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Im 1811 erschienenen ersten Teil seiner Autobiografie beschreibt er die Lebensbedingungen der jüdischen Bevölkerung in seiner Vaterstadt: «Zu den ahndungsvollen Dingen, die den Knaben und auch wohl den Jüngling bedrängten, gehörte besonders der Zustand der (...) Judengasse (...). Die Enge, der Schmutz, das Gewimmel, der Accent einer unerfreulichen Sprache, alles zusammen machte den unangenehmsten Eindruck (..). Es dauerte lange bis ich allein mich hineinwagte, und ich kehrte nicht leicht wieder dahin zurück, wenn ich einmal den Zudringlichkeiten so vieler etwas zu schachern unermüdet fordernder oder anbietender Menschen entgangen war. (...) Indessen blieben sie doch das auserwählte Volk Gottes, und gingen, wie es nun mochte gekommen seyn, zum Andenken der ältesten Zeiten umher. (...) Ueberdieß waren die Mädchen hübsch (...).
Sogar Napoleon diskutierte mit »Monsieur Göt« über sein Werk
Am 2. Oktober 1808 wurde Goethe in Erfurt von Napoleon empfangen, der damals auf dem Höhepunkt seiner Macht stand und den Großteil Europas beherrschte. Der Kaiser saß gerade beim Frühstück, blickte auf und begrüßte Goethe mit den berühmt gewordenen Worten: »Vous êtes un homme!« (»Sie sind ein Mann«). Was er damit genau meinte, ist unklar, vielleicht so etwas wie »Wir können uns von Mensch zu Mensch unterhalten«, vielleicht aber auch: »Sie sind ein Kerl, von Ihnen hab‹ ich schon viel gehört!« Die Gen Z würde an der Stelle ein anerkennendes »Slay!« raushauen.
Anschließend fragte Napoleon seinen Gast nach dessen Alter, und als Goethe mit »60« antwortete, lobte er: »Sie haben sich gut gehalten.« Dies, obwohl andere Leute fanden, dass Goethe ziemlich dick geworden war. Im weiteren Verlauf des Gesprächs kam Napoleon auf Goethes frühen Bestseller »Die Leiden des jungen Werther« zu sprechen und äußerte sich – wie zum Beweis dafür, dass er das Buch auch tatsächlich gelesen hatte – konkret zu einigen Passagen. Eine bestimmte Stelle hatte ihm nicht gefallen, weil sie ihm nicht realistisch erschien. Goethe fand das amüsant und antwortete darauf, ein Schriftsteller dürfe so was eben machen.
Der »Werther« war schon 1774 erschienen und hatte Goethe – damals noch ein junger Mann von 25 Jahren – auf einen Schlag in ganz Europa berühmt gemacht. Dass sich die Hauptperson am Ende aus Liebeskummer umbringt, soll andere junge Männer in ähnlichen Situationen ebenfalls dazu verleitet haben, ihrem Leben ein Ende zu setzen.
Ob es diesen »Werther-Effekt« wirklich gegeben hat, ist umstritten. Wie viele andere Schriftsteller ärgerte sich Goethe später darüber, dass er immer zuerst auf den »Werther« angesprochen wurde. Aber gut, der Kaiser der Franzosen konnte sich das natürlich erlauben. Übrigens sprach er den schwierigen deutschen Namen »Göt« aus, und wenn Goethe die Szene später nacherzählte, hat er Napoleon wohl auch so persifliert.
Heute hat »Woyzeck« dem »Faust« den Rang abgelaufen
Endgültig seit seinem Ableben 1832 im damals hohen Alter von 82 Jahren schwebte Goethe gottgleich über Deutschland. Mitunter wurde er zwar auch kritisiert – als Klassenfeind, Sexist, Antisemit und alles Mögliche andere, doch das konnte seinem Status nie wirklich etwas anhaben. Aber in den vergangenen Jahren ist nun etwas passiert, was es so vielleicht noch nicht gegeben hat: Das Interesse an Goethe scheint abzuebben.
Schon 2022 ergab eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur, dass der »Faust« nur noch in wenigen Bundesländern Pflichtlektüre an den Schulen ist. Der Deutsche Bühnenverein stellt fest, dass das Stück immer weniger gespielt wird. In der Saison 2022/23 wurden acht Inszenierungen verzeichnet, vor Corona waren es noch 20.
»Der Hauptgrund ist meiner Meinung nach, dass ein alter, intellektueller weißer Mann bei den derzeitigen Diskursen nicht unbedingt als Hauptfigur taugt«, analysiert Detlev Baur, Chefredakteur der Fachzeitschrift »Die Deutsche Bühne«. »Allenfalls für Umschreibungen wie »Doktormutter Faust«, das in der letzten Saison uraufgeführt wurde und nun erneut inszeniert wird.«
Gretchen beziehungsweise Marie werden fast immer umgeschrieben
Was die Schullektüre betreffe, habe Georg Büchners gesellschaftskritisches Drama »Woyzeck« dem »Faust« den Rang abgelaufen. Das derzeit meistinszenierte Drama an den Theatern ist ebenfalls »Woyzeck«. »Auch zwischen Schullektüre und Theaterspielplänen besteht ein Zusammenhang – auch das hat aber natürlich tiefere inhaltliche Gründe«, so Baur. Bei beiden Stücken beschäftigen die Theater derzeit besonders die Frauenfiguren: »Die Opferfiguren Gretchen beziehungsweise Marie werden fast immer umgeschrieben oder uminszeniert.«
Auch der Literaturkritiker und Schriftsteller Thomas Steinfeld, der gerade eine knapp 800 Seiten dicke Biografie des Schriftsteller-Genies veröffentlicht hat (»Goethe – Porträt eines Lebens, Bild einer Zeit«), konstatiert, dass das Goethe-Wissen gerade im vergangenen Jahrzehnt eingebrochen sei: »Bis vor einigen Jahren konnte man sich darauf verlassen, dass Goethes Leben und Werk in groben Umrissen bekannt waren. Die Bewunderung, die man ihm gegenüber aufbrachte, setzte vage Vorstellungen von einem allgemeingültigen und verehrungswürdigen Denkmal voraus.« Dass heute andere Bedingungen galten, liege vielleicht nicht nur am Schulunterricht, sondern auch an einem allgemein weniger ausgeprägten historischen Bewusstsein.
Ein Goethe-Influencer aus dem Ruhrgebiet geht neue Wege
Vielleicht sind Lesekreise und Drei-Stunden-Vorstellungen im 21. Jahrhundert aber auch einfach nicht mehr das zeitgemäße Mittel, um sich dem Dichter anzunähern. Damian Mallepree (38) aus Essen-Kettwig erprobt seit vier Jahren eine andere Herangehensweise: das Instagram-Format »Alles Goethe!«. Sein Ziel ist es, »über Goethe und seine Zeit miteinander im Gespräch zu bleiben«. Dafür plaudert der Goethe-Influencer mitunter mehrmals pro Woche mit Menschen, die sich ebenfalls für den Dichter interessieren oder irgendeinen Bezug zu ihm oder seiner Epoche haben.
Zu seinen Gästen gehörten schon ein Krankenpfleger, der großer Goethe-Fan ist, eine Malerin, mit der Goethes Blick auf das Meer untersucht wurde, und ein Chirurg für Stimmbänder, der Auskunft über Goethes Stimmlage geben konnte. Daneben gibt es Buchvorstellungen mit bekannten Autoren, bei denen die Community im Live-Chat Fragen stellen kann. Immer wieder werden erstaunliche »Fun Facts« zum Weimarer Geheimrat enthüllt: So gibt es in Südkorea und Japan einen Milliardenkonzern mit dem Namen »Lotte« – nach der Lotte aus den »Leiden des jungen Werther«. Firmengründer Shin Kyuk-Ho war von dem Roman so begeistert, dass er sein Unternehmen nach der weiblichen Hauptfigur benannte.
Goethe-Experte gibt Lese-Tipp
»Ich denke, es muss um Vernetzung und Austausch gehen«, sagt Damian Mallepree. Seine Follower-Zahl ist mit 1600 sicher noch überschaubar, doch gerade das erlaubt den intensiven Austausch: »Ich kenne meine Follower ziemlich gut.« Der Marketing-Experte, der seine Abschlussarbeit in Germanistik über Goethe geschrieben hat, ist überzeugt: »Goethe ist heute nicht mehr jemand, der uns sagt, wo’s lang geht, sondern jemand, der uns verbinden kann, weil er Verknüpfungspunkte schafft.« Einmal aufgrund seiner zahllosen Interessen und dann aufgrund seiner Offenheit – »er passt eben nicht in Schubladen, sondern lässt Interpretationsspielräume zu«.
Und wenn man sich Goethe nun doch etwas intensiver zuwenden will, womit sollte man anfangen? Wirklich einfach sei nichts, warnt Biograf Steinfeld: »Man muss den Kopf anstrengen, wenn man seinen Werken etwas abgewinnen will.« Aber dann tue sich ein unglaublicher Reichtum von Gedanken auf. Sein Tipp für den Einstieg: »Fangen wir mit »Werther« an.« dpa/ja