Fast zwei Stunden nahm sich der Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestages am Mittwochnachmittag Zeit, um den jüngsten Eklat rund um Antisemitismus und »Israel-Kritik« im Kulturbetrieb aufzuarbeiten und die Verantwortlichen dazu zu befragen. Ein »Fachgespräch« stand auf der Tagesordnung; das Thema: »Antiisraelische und antisemitische Vorfälle bei der Berlinale«.
Während der Abschlussveranstaltung des Berliner Filmfestivals Ende Februar machten mehrere Preisträger durch Statements und Aktionen zum Nahostkonflikt auf sich aufmerksam. So war von einem angeblichen »Genozid« Israels im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Hamas in Gaza die Rede. Im Anschluss hagelte es Kritik an der Leitung der Festspiele und auch an der Politik. Die Berlinale wird nämlich vom Bund und vom Land Berlin mitfinanziert. Grund genug also für die Parlamentarier, den Verantwortlichen auf den Zahn zu fühlen.
Einer war nicht erschienen: Kai Wegner, Regierender Bürgermeister von Berlin, war von der Ausschussvorsitzenden Katrin Budde (SPD) eingeladen gewesen, sich zu äußern. Doch der CDU-Politiker ließ sich entschuldigen.
Dabei musste Wegner nicht etwa die Kritik der Kulturstaatsministerin des Bundes, Claudia Roth (Bündnis90/Die Grünen) fürchten. Die bedauerte zwar sein Fehlen, sagte aber auch: »Wir arbeiten wirklich eng zusammen und haben uns in der Frage Berlinale im Vorfeld und nach Abschluss zusammengesetzt, sehr eng miteinander abgestimmt und im Aufsichtsrat auch gemeinsam agiert.«
Genauso sei es bei ihrem Spitzengespräch mit den Kulturministern der Länder gewesen. »Einstimmig« habe man dort einen Beschluss gefasst, der das Anliegen von Bund, Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden deutlich mache. Die sind nach dem neuerlichen Antisemitismusdebakel im deutschen Kulturbetrieb – die documenta fifteen in Kassel ist allen noch sehr präsent – sichtlich um Harmonie bemüht.
Roth wollte Druck aus dem Kessel nehmen. Das wirkte aber so, als wolle sie es allen recht machen. Und klang dann so: »Weil diese Konfrontation, diese Spannung, dieses Sich-nicht-mehr-Zuhören oder diese Dialogunfähigkeit ein Riesenproblem ist.« Einerseits. Andererseits sei es ja »tatsächlich unerträglich«, die »Einsamkeit und den Schmerz und die Angst von jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu erleben.« Sie habe natürlich mit vielen geredet, »vor der Berlinale, nach der Berlinale«, und die Kritik an ihrer Person habe sie sehr getroffen.
Damit meinte sie vor allem die Kritik von Charlotte Knobloch, der 91-jährigen Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Vom Nachrichtenmagazin »Focus« war Knobloch vor zwei Wochen gefragt worden, ob sie Roths Entlassung befürworte. Die Antwort: »Ich finde, darüber sollten die Verantwortlichen in der Bundesregierung sich jetzt sehr ernsthaft Gedanken machen. Ich bin damit zwar wirklich nicht glücklich. Aber was passiert ist, war einfach zu viel.«
Sie kenne Knobloch »wahrscheinlich länger als alle hier im Raum«, sagte Roth, die ebenfalls aus Bayern stammt. Seit Jahren stehe sie mit ihr »in engem und vertrauten Zusammenhang«, das werde sich auch künftig nicht ändern.
Sie teile aber nicht Knoblochs Auffassung, so Roth, dass sie nach den israelfeindlichen, antisemitischen Äußerungen auf der Berlinale-Bühne den Saal aus Protest hätte verlassen und die Besucher der Preisverleihung hätte auffordern müssen, es ihr nachzutun. Claudia Roth: »Ich glaube, das geht einfach nicht bei einer internationalen Kulturveranstaltung, dass ich als Repräsentantin des Staates auf so eine Art und Weise eingreife.«
Die Rücktrittsforderungen an die Adresse Roths standen bei der Ausschusssitzung am Mittwochnachmittag nicht im Mittelpunkt, Fingerzeige auf die andere Seite hingegen schon. Der bayerische Grünen-Abgeordnete Erhard Grundl sprach seiner CSU-Kollegin Dorothee Bär das Recht ab, allzu scharfe Kritik an Roth zu üben, wo ihre Partei in Bayern doch gemeinsam mit Hubert Aiwanger (Freie Wähler) regiere.
»Antisemitismus ist die Fratze der Barbarei und kein importiertes Phänomen«, sagte Grundl. »Er hat lange Tradition in Deutschland. Antisemitismus ist eine menschenverachtende Geisteshaltung, die erlernt und tradiert wird. So gesehen ist die größte Last beim Thema Antisemitismus heute hier im Raum zweifellos bei der Kollegin Bär, die als stellvertretende Parteivorsitzende der CSU Mitverantwortung dafür trägt, dass sich ihre Partei in Bayern nur mithilfe eines temporären, nicht praktizierenden Antisemiten namens Aiwanger an der Macht halten kann«, wetterte er.
Ob das nur eine politische Nebelkerze war, um von der Kritik an seiner eigenen Parteifreundin abzulenken? Roth rechtfertigte auf Nachfrage nochmals ihr Sitzenbleiben im Festsaal – »als Repräsentantin des Staates«. Es sei »bedauerlich«, dass die vorab getroffenen Absprachen mit den Moderatoren nicht funktioniert hätten.
Etwas überraschend wies sie dann dem ZDF eine Mitschuld zu. Der Sender hatte die Preisverleihung übertragen. Claudia Roth: »Ehrlich gesagt, mir war auch nicht klar, dass für die Eröffnung und für die Preisverleihung, also für den ersten und den letzten Abend, gar nicht die Berlinale-Leitung die Verantwortung hatte, sondern das ZDF. Und dass die Moderatorinnen und Moderatoren nicht von der Berlinale, sondern vom ZDF gestellt wurden.« Es könne ja nicht sein, dass die Produktion vom ZDF übernommen werde und der Sender dann gar keinen Einfluss habe.
Auch die vor kurzem aus dem Amt geschiedene Co-Geschäftsführerin der Berlinale, Mariette Rissenbeek, sagte, die Moderatorin des Abends habe »nicht direkt mit uns in einem Arbeitsverhältnis« gestanden. Bereits vor der Eröffnung der Berlinale habe man im Gespräch mit dem ZDF und der Moderatorin auf »rote Linien« hingewiesen. Rissenbeek: »Wir waren uns auch einig, wie man damit umgeht, wann man was abbricht. Natürlich in der Hoffnung, dass man nicht wirklich etwas abbrechen muss.«
Am Abend der Preisverleihung habe man dann aber nicht noch einmal mit ihr gesprochen. Dafür sei das ZDF zuständig gewesen. Von Moderationskarten (die die Moderatorin am Ende gar nicht verwendete, weil sie den Protest der Künstler unterstützte) wisse sie nichts, so Rissenbeek. »Wenn, dann muss das über das ZDF gelaufen sein.«
In Mainz sieht man das aber anders. Eine Sprecherin des ZDF teilte dieser Zeitung am Donnerstag auf Anfrage mit, die Eröffnungs- und Abschlussgalas der Berlinale seien zwar von 3Sat übertragen worden. »Vertraglich ist eindeutig festgelegt, dass den Internationalen Filmfestspielen Berlin als Veranstalterin die Verantwortung für die inhaltliche Gestaltung der Events obliegt.« Also nur ein Ablenkungsmanöver von Roth und Rissenbeek?
Im Kulturausschuss nach dem »Panorama«-Instagram-Account der Berlinale gefragt, auf am letzten Tag der Berlinale kurzzeitig Kacheln und Story-Beiträge mit pro-palästinensischer Propaganda und antisemitischen Inhalten, darunter die Hamas-Parole »Free Palestine From the River to the Sea«, gepostet waren, antwortete Mariette Rissenbeek: »Das war Missbrauch, der Account wurde gehackt.« Man habe Strafanzeige gestellt, die Ermittlungen dauerten noch an, sagte Mariette Rissenbeek. Ob die Russen hinter dem Hack steckten, wollte eine wissen. Rissenbeek konnte oder wollte keine Antwort geben.
Claudia Roth verurteilte die Geschehnisse auf und abseits der Bühne erneut. Unvorbereitet sei man gewesen, behauptete sie. »Unsere Sorge, auch meine Sorge, war, dass die israelischen Filmemacher, die ja beim Festival präsentiert wurden, das gar nicht mehr können. Dass Versuche unternommen würden, ihre Filmvorführungen zu boykottieren, dass sie unterbrochen würden, dass sie gestört würden.« Das sei aber bis auf die Abschlussveranstaltung bei der Berlinale nicht passiert, betonte Roth.
»Es hat am Abend nicht funktioniert. Das hat auch mit den Verantwortlichkeiten zu tun.« Es wäre notwendig gewesen, so Roth, »vor allem dem Punkt des sogenannten Genozids zu widersprechen von Seiten der Moderation. So war es eigentlich ja auch verabredet bei allen anderen Veranstaltungen.«
Problematisch fand sie vor allem die Aussage von Ben Russell. Der habe sich »ganz offen an die Kameras gewandt« und »an seine Genossen von der Hamas« appelliert, sagte die Kulturstaatsministerin. Und fügte hinzu: »Das war wirklich unerträglich. Und auch da wäre es notwendig, aus meiner Sicht, dass die Moderatorin etwas sagt und dem widerspricht.« Ob die Berlinale daraus Schlüsse ziehen werde? »Ich sage noch mal, es hat ziemlich viel funktioniert. Aus diesen Erfahrungen wird man ja auch Maßnahmen ergreifen für die Zukunft.«
Welche Maßnahmen das sein könnten, wollten die Abgeordneten auch von Tricia Tuttle wissen. Die Amerikanerin ist seit Kurzem die neue Intendantin der Filmfestspiele. Zuvor hatte sie über viele Jahre hinweg das London Film Festival geleitet.
Tuttle sprach auf Englisch. Aber es lag wohl nicht nur an der Sprache, dass man das Gefühl bekam, die Amerikanerin wolle es sich am liebsten mit niemandem verscherzen. Jedenfalls äußerte sie sich eher kryptisch. »Safe Spaces«, geschützte Räume also, müsse es für die Künstler bei der Berlinale geben, damit die dort »über ihre Arbeit sprechen« könnten. Das sei sehr wichtig.
Nach der Arbeitsdefinition der IHRA zum Antisemitismus gefragt, die als ein Beispiel für Judenhass auch die Leugnung des Existenzrechts Israels nennt, antwortete Tuttle: »Was die Definition des Antisemitismus angeht, kann ich nur das wiederholen, was Frau Roth sagt, nämlich, dass die Definition schwierig ist.« Es gebe da nämlich eine »gewisse Komplexität«, denn der bei der Berlinale ausgezeichnete israelische Filmemacher Yuval Abraham habe nach der Abschlussgala Morddrohungen erhalten – wegen dieser Antisemitismusvorwürfe, so Tuttle.
Man müsse stattdessen miteinander reden und deeskalieren und auch aus Fehlern lernen. Ausgrenzung sei falsch, so Tuttle. »Wir brauchen eine Deeskalation und das werden wir tun, auch in Zusammenhang mit den Dialogen zu Antisemitismus.«
Der SPD-Obmann im Kulturausschuss, Helge Lindh, stimmte dem zu, beschrieb aber das Problem, nämlich »dass Menschen zum Boykott aufrufen und dass Leute, die politisch informiert und hier sozialisiert sind, im Wissen darum, dass Deutschland eine Geschichte von Boykotten gegen Jüdinnen und Juden hat, das trotzdem so formulieren.« Das Motto »Nie wieder ist jetzt« sei offensichtlich nicht Konsens im Kulturbereich. »Das muss uns alle massiv beunruhigen und zeigt die Größe der Aufgabe, aber womöglich auch die Chance für den Kulturbereich«, so der SPD-Politiker.
Auch Claudia Roth setzt auf Dialog - mit allen Beteiligten, versteht sich. Dass sie mit der jüdischen Community im ständigen Austausch sei, betonte sie mehrfach. Auch im Ausland sei sie unterwegs, besuche ständig Gedenkveranstaltungen. »Ich war jetzt am Wochenende Gast der französischen jüdischen Gemeinschaft in Izieu, bei der Gedenkveranstaltung 80 Jahre Kinder von Izieu, wo die Nazis ein grauenhaftes Verbrechen begingen und 44 jüdische Kinder nach Auschwitz transportiert wurden.«
Außerdem, betonte Roth, habe sie mit dafür gesorgt, dass Israels Kandidatin am Eurovision Song Contest teilnehmen dürfe, den Boykottforderungen zum Trotz. »Und ich bin wirklich berührt, dass der israelische Staatspräsident Herzog mir persönlich dafür gedankt hat«, sagte sie.
Denn Boykotte jüdischer Künstler bei internationalen Kulturveranstaltungen, das sei in der Tat »ein sehr drängendes Problem, und es ist nicht akzeptabel.« Teile der internationalen Kulturszene zeichneten sich eben durch »Einseitigkeit« aus. »Das fordert uns alle heraus, die Politik ebenso wie den Kulturbereich.«
Dass Claudia Roth diesen Herausforderungen mit ihrer Arbeit bislang erfolgreich begegnet ist, dürften viele bezweifeln – nicht nur in der jüdischen Gemeinschaft, sondern auch in den Reihen der Ampelkoalition. Daran hat wohl auch die Ausschusssitzung nichts geändert.