Pro: »Es geht um vollständige Aufmerksamkeit«, meint Sabine Brandes
Ich habe eine letzte Bastion. Die verteidige ich ohne Wenn und Aber. Trotz Streit und Genöle. Es gibt keine Handys am Esstisch. Nicht zum Frühstück, nicht zum Mittagessen und ganz sicher nicht zum Abendessen. Das ist nicht immer einfach. Meine erwachsene Tochter erledigt viel für ihr Studium und ihren Job vom Handy aus, mein Sohn im Teenageralter chattet nicht nur, er bekommt auch seine Hausaufgaben auf den Bildschirm geschickt. Und dann sind da die Freundinnen meiner kleinen Tochter …
Und trotzdem bleibe ich hart. Ich möchte meinen Lieben zumindest einmal am Tag gegenübersitzen, ohne dass sie abgelenkt werden. Es ist der Ort, an dem wir reden, lachen, manchmal streiten, mit geradem Rücken sitzen und uns anschauen.
Auch Freunde müssen ihre Handys beiseitelegen, wenn sie mit uns essen. Das hat mehr als einmal zu peinlichen Momenten geführt, wenn meine Kinder mir ein extra genervtes Augenrollen zuwarfen. Man sollte denken, es sei ganz normal, beim Essen das Telefon wegzulegen. Doch nicht hierzulande. Die Israelis sind besonders in Tech-Dingen ganz weit vorn, und auch darin, ihre Telefone so gut wie nie aus der Hand zu legen.
Ich bin auf keinem Feldzug gegen Mobiltelefone oder Bildschirmzeit. Ich kann den Lauf der Dinge nicht aufhalten und will es auch gar nicht. Erstens würde ich verlieren, und zweitens bin ich mir der Vorteile der Technologie durchaus bewusst sowie als Journalistin auf sie angewiesen. Gleichzeitig will ich in meinen Kindern das Bewusstsein am Leben halten, dass Dauer-Konnektivität kein Muss ist.
Ich habe eine Freundin, die ist Lehrerin in Tel Aviv. Sie hat sich die Not zur Tugend gemacht und ihren Schülerinnen und Schülern, die im Unterricht immer wieder aufs Handy blickten, die Aufgaben auf die Smartphones geschickt. Zuerst dachte ich, wie clever … Doch nach ein paar Augenblicken fand ich es traurig.
An Schulen werden Kinder nur ohne Smartphone richtig smart.
Ron Huldai hingegen ist ein Meister der alten Schule. Gleichsam stellt sich der erste Mann von Tel Aviv in keiner Weise gegen Hightech, seine Stadt ist schließlich führend darin. Und doch will er jetzt die Handys in den Bildungseinrichtungen der Metropole am Mittelmeer verbieten lassen. Unter dem Motto »Aufmerksamkeit gewinnen« kündigte er eine Initiative an, um die Smartphone-Präsenz an Schulen schrittweise zu reduzieren, bis Handys schließlich ganz vom Gelände verbannt sind. Damit solle eine ablenkungsfreie Lernumgebung geschaffen werden, die bessere Leistungen und stärkere soziale Bindungen fördert. Die Stadtverwaltung will die Schulen umfassend unterstützen, indem sie Ressourcen und Beratung bereitstellt.
Als ich von dieser Ankündigung hörte, jubelte ich. Dass es um die »vollständige Aufmerksamkeit« geht, versuche ich meinen Kindern immer wieder zu vermitteln, wenn sie mir weismachen wollen, dass man sich auch unterhalten kann, wenn man zwischendurch gelegentlich aufs Telefon schielt.
Huldai sagt, er träume davon, dass es uns gemeinsam gelingt, das Bildungssystem weiterzuentwickeln, unsere Komfortzone zu verlassen und die Bedeutung von Aufmerksamkeit neu zu entdecken. »Am richtigen Ort und zur richtigen Zeit präsent zu sein«, fasste er zusammen. »Präsent sein, um zu reden, zu fühlen, zu hören und alle anderen Sinne zu nutzen, ohne den Bildschirm im Blick« – das sind ganz meine Gedanken.
Mehrere Dutzend Grundschulen und mindestens vier weiterführende Schulen in der Stadt sind bereits Teil dieses Prozesses. Huldai bezeichnet sie als »echte digitale Pioniere«. Recht hat er, ganz ohne Zynismus. Denn nur, wer die Technologie steuert und nicht von ihr gesteuert wird, ist wirklich innovativ.
An der Grundschule meiner Tochter werden die Handys jeden Morgen am Eingang der Klasse eingesammelt. Am Ende eines Tages holen die Mädchen und Jungen sie wieder ab. Die Lehrerin erzählte beim Elternabend, dass die Aufmerksamkeit um mindestens das Doppelte zugenommen habe. Allein dadurch, dass die Versuchung nicht im Schulranzen liege, sondern weggeschlossen im Lehrerschrank unerreichbar sei.
Die Lehrerin bekam viel Applaus. Natürlich sind Technologie und Innovation bedeutende Teile unseres Lebens, vielleicht sogar besonders hier, im kleinen, manchmal vom Rest der Welt weit entfernten Israel. Doch vor allem an einem Ort, an dem es um soziale Bindungen und Erlebnisse geht – der Schule –, können Handys regelrecht zerstörerisch sein. Die Reiz- und Informationsüberflutung schon kleiner Kinder ist außer Kontrolle geraten.
Dabei sollten Schüler lernen zu sprechen, zuzuhören, kreativ zu sein und sich auseinanderzusetzen, ohne vom schönen Schein des Internets abgelenkt und manipuliert zu werden. Ich bin überzeugt, an Schulen werden Kinder nur ohne Smartphones richtig smart. Keine Künstliche Intelligenz der Welt kann die emotionale ersetzen, die man im Umgang mit Menschen erlernt. Echten Menschen!
Die Autorin ist Israel-Korrespondentin der Jüdischen Allgemeinen.
***
Contra: »Ein Verbot lässt das Potenzial ungenutzt«, sagt Sima Purits
Ein pauschales Handyverbot, besonders an Grundschulen, klingt zunächst nachvollziehbar. Viele verbinden Smartphones mit Ablenkung, Konflikten, Mobbing oder einer Beeinträchtigung der Konzentration. Ein Verbot erscheint da auf den ersten Blick als einfache Lösung für viele Herausforderungen im Schulalltag. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Ein solcher Schritt ist zu kurz gedacht und löst keine Probleme nachhaltig. In einer Welt, in der Kinder mit digitalen Technologien aufwachsen, kann ein Verbot nicht der richtige Weg sein.
Kinder wachsen heute selbstverständlich mit Smartphones und digitalen Medien auf. Diese sind kaum noch aus dem Alltag wegzudenken. Nicht nur zur Unterhaltung, sondern auch zur Organisation, als Wecker, Kalender, Erinnerungshelfer, Informationsquelle oder Kommunikationsmittel mit der Familie. Auch bei jüngeren Schülerinnen und Schülern ist das längst Realität. Anstatt diesen Umgang zu verbieten, sollten Schulen aktiv dazu beitragen, Kindern zu zeigen, wie man sich sicher und sinnvoll in der digitalen Welt bewegt. Besonders Eltern, aber auch Lehrkräfte tragen hier die Verantwortung und sollten als Vorbilder im Umgang mit Technik agieren.
Eine zentrale Aufgabe von Schule ist es, Kinder auf ein Leben in der realen (und digitalen) Welt vorzubereiten. Daher brauchen Kinder auch die Möglichkeit, Eigenverantwortung zu lernen. Wenn ihnen ständig vorgeschrieben wird, was sie dürfen und was nicht, und das ohne jeglichen Entscheidungsspielraum, entwickeln sie kein Gespür dafür, was in bestimmten Situationen angemessen ist.
Dabei geht es nicht nur um die Nutzung während der Schulzeit, sondern auch um ein bewusstes Verständnis für Inhalte. Informationen einschätzen, reflektiert mit sozialen Netzwerken umgehen, die eigene Privatsphäre schützen und digitale Pausen einlegen. All das sind Kompetenzen, die früh gefördert werden sollten. Und diese Selbstständigkeit könnten Smartphones sogar noch zusätzlich stärken.
Wann ist es sinnvoll, das Handy zu benutzen? Wann nicht? Wenn solche Fragen gemeinsam mit den Schülern besprochen und Regeln entwickelt werden, lernen sie mehr fürs Leben als durch ein schlichtes Verbot. Auch im Unterricht kann das Handy eine sinnvolle Ergänzung sein. Es gibt zahlreiche digitale Werkzeuge, die das Lernen unterstützen, von Vokabeltrainern über Mathehilfen bis zu Recherchetools. Besonders in höheren Klassen kann das Smartphone ein praktisches Hilfsmittel sein. Ein generelles Verbot würde verhindern, dass diese Potenziale genutzt werden.
Schulen sollen in der digitalen Welt begleiten.
Auch die Erreichbarkeit spricht gegen ein generelles Handyverbot. Viele Eltern möchten ihr Kind nach der Schule kontaktieren können. Besonders Kindern, die selbstständig zur (Grund-)Schule gehen oder an Nachmittagsangeboten teilnehmen, gibt das Handy Sicherheit. Im Notfall schnell telefonieren, sich bei Verspätung melden oder eine Nachricht schreiben zu können, ist eine wichtige Funktion.
Natürlich darf man die Herausforderungen, die mit Smartphone-Nutzung einhergehen, nicht ignorieren. Cybermobbing, Ablenkung oder unreflektierter Konsum sind reale Probleme. Aber lösen wir sie durch ein Verbot? Oder verschieben wir sie nur auf später – wenn die Kinder damit allein klarkommen müssen? Schulen sollten ein Ort sein, an dem solche Themen offen besprochen werden. An dem gemeinsam Regeln entwickelt werden, wo reflektiert wird, wie man mit digitalen Reizen umgeht und Kinder Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen können. Das ist natürlich deutlich aufwendiger als ein Verbot, aber pädagogisch sinnvoller. Wer nie gelernt hat, mit digitalen Medien verantwortungsvoll umzugehen, wird es später schwerer haben.
Ein pauschales Verbot ignoriert außerdem die Unterschiede zwischen Schulen, Altersgruppen und individuellen Bedürfnissen. Nicht jede Schule ist gleich, nicht jede Klasse und vor allem nicht jedes Kind. Statt eine Einheitslösung zu erzwingen, sollten Schulen daher selbst entscheiden können, wie sie den Umgang mit Handys regeln. Und das am besten gemeinsam mit Lehrkräften, Eltern und Schülern aller Altersklassen. So entsteht deutlich mehr Akzeptanz, und das Verständnis für sinnvolle Regeln wächst.
Demnach mag ein Handyverbot an Schulen gut gemeint sein, jedoch wirkt es wie der falsche Weg. Wenn wir Kindern wirklich etwas mitgeben wollen, dann nicht nur Wissen, sondern auch die Fähigkeit, sich in einer komplexen Welt zurechtzufinden. Der Fokus sollte darauf liegen, ihnen zu helfen, den verantwortungsvollen Umgang mit digitalen Geräten zu lernen.
Schulen haben dabei eine Schlüsselrolle. Und das nicht als Verbotsinstanz, sondern als Begleitung in einer digitalen Welt. Mit klaren Regeln, Vertrauen, Reflexion und der Bereitschaft, Neues zuzulassen, kann der sinnvolle Umgang mit Handys gelingen und den Schulalltag bereichern.
Die Autorin studiert Sozialmanagement in Niedersachsen.