Pro & Contra

Ist der Pluralismus in Gefahr?

Jüdisches Museum Berlin Foto: imago

Pro – Micha Brumlik: Peter Schäfers Rücktritt zeigt, dass es einen Maulkorb in Sachen BDS gibt

Die Frage ist leicht zu beantworten: Ja! Zu erörtern ist allenfalls, ob dies zu Recht geschieht oder nicht. Zu fragen ist daher, wie weit sich ein Pluralismus in der jüdischen Gemeinschaft, die allenfalls ein vage miteinander verbundener Zusammenhang von Religion, Kultur und Ethnie ist, erstrecken soll – genauer: was im Rahmen dieser Gemeinschaft, jedenfalls soweit sie politisch verfasst ist, zu äußern noch zulässig ist.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland meint, dass nicht mehr im jüdischen Geist spricht, wer glaubt, dass BDS nicht antisemitisch sei. So entzog der Zentralrat dem Direktor des Jüdischen Museums das Vertrauen, als im Namen des Museums ohne Anführungsstriche darauf hingewiesen wurde, dass 240 jüdische, israelische Wissenschaftler eine Erklärung unterschrieben haben, die dem Beschluss des Deutschen Bundestages widersprach, BDS sei antisemitisch.

Dass sich die Gelehrten damit in einen Gegensatz zu einer Mehrheit von (nichtjüdischen) Abgeordneten des Deutschen Bundestages gesetzt haben, ist unbestreitbar – aber warum soll den Abgeordneten eine Deutungshoheit darüber zukommen, was »antijüdisch« und damit eben auch, was »jüdisch« ist?

Erklärung Die 240 jüdischen Gelehrten erklärten jedenfalls: »Die Unterzeichner dieser Erklärung haben zu BDS unterschiedliche Meinungen: Einige mögen BDS unterstützen, andere lehnen es aus verschiedenen Gründen ab. Wir alle lehnen jedoch die trügerische Behauptung ab, dass die BDS-Bewegung als solche antisemitisch sei, und wir verteidigen das Recht jeder Person oder Organisation, sie zu unterstützen.«

»Die Gleichsetzung von BDS mit dem nationalsozialistischen Judenboykott ist unsinnig.« Micha Brumlik

Dabei sollte es nicht bleiben: Am 18. Juni erklärten laut »Jewish Telegraphic Agency« 45 akademische Talmudgelehrte – initiiert von Ishay Rosen Zvi von der Universität Tel Aviv und Moulie Vidas, er lehrt Talmud in Princeton – ebenfalls ihre Solidarität mit Peter Schäfer.

Bei alledem ist nicht zu bestreiten, dass es Jüdinnen und Juden gibt, die unsinnige Überzeugungen vertreten: Dennoch würde man jene Satmarer Chassidim, die jedes Jahr in Berlin bei der Al-Quds-Demonstration mitlaufen, als politische Narren, aber nicht als Antisemiten bezeichnen – ebensowenig wie die Neturej Karta, die an jedem israelischen Unabhängigkeitstag mit schwarzen Trauerfahnen durch Jerusalem ziehen, weil die zionistische Staatsgründung Gott und seinem Moschiach ins Handwerk gepfuscht habe.

Diskussion Mit der Haltung zu BDS ist es ähnlich bestellt: Wie ich aus einer Diskussion mit der BDS-Anhängerin und Adorno-Preisträgerin Judith Butler im Jüdischen Museum weiß, ist ihr – als dem Kind einer dem Holocaust in Ungarn entronnenen Familie – das Etikett »antisemitisch« unter keinen Umständen anzuheften. Widerspricht es mithin »jüdischem Geist«, BDS lediglich für falsch, kontraproduktiv und für die legitimen Interessen der Palästinenser als nicht zielführend, nicht aber für antisemitisch zu halten, um zum Mitläufer von Antisemiten gestempelt zu werden? Verharmlosen nicht alle, die den von palästinensischer Seite proklamierten gewaltfreien Boykott israelischer – nicht etwa »jüdischer« – Waren mit dem »Kauft nicht bei Juden« vom 1. April 1933 gleichsetzen, den Judenhass der Nazis? Dagegen wird zu Recht eingewandt, dass jedenfalls nicht wenige Antisemiten BDS aus genau diesem Grunde zustimmen.

Indes: Wenn alles, was Nationalsozialisten einmal getan haben, als antisemitisch bezeichnet wird, träfe das auch den Zionismus. 1937 weilte Eichmann in Palästina, um die Möglichkeiten jüdischer »Auswanderung« zu prüfen und mit Agenten des Jischuw zu sprechen. »Die offizielle Linie des SD in der ›Judenfrage‹ bestand zu dieser Zeit«, so Peter Witte in der »Welt« vom 20. August 1999, »zum einen in der Zerschlagung der ›assimilatorischen Verbände‹, zum anderen in der Förderung der zionistischen Abwanderung der Juden aus Deutschland mit allen Mitteln. So ist es zeitweilig zu einer teilweisen Berührung der beiderseitigen Interessen gekommen.«

Kurzum: Die Gleichsetzung von nationalsozialistischen und zionistischen Interessen ist ebenso unsinnig wie die Gleichsetzung von BDS mit dem nationalsozialistischen Judenboykott, weshalb es eine legitime jüdische Überzeugung sein kann, BDS zwar für unsinnig, aber nicht antisemitisch zu halten.

Zukunft Doch zurück zur Zukunft: Ich wünsche mir, dass ein »Jüdisches Museum« in Deutschlands Hauptstadt, in Berlin, künftig die Geschichte des deutschsprachigen Judentums von Süßkind von Trimberg bis zu Jurek Becker, von Glikl von Hameln bis zu Barbara Honigmann ebenso dokumentiert wie die scharfen politischen Debatten zwischen dem Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens hier und der Zionistischen Vereinigung für Deutschland dort.

In dieser Hinsicht können Museum und jüdische Gemeinschaft von unseren Weisen lernen: Der Talmud jedenfalls hat getreulich auch gegensätzlichste Meinungen protokolliert.

Micha Brumlik (71) ist emeritierter Erziehungswissenschaftler und Publizist. Er ist Senior Advisor am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin‐Brandenburg und einer der Schirmherren des Vereins »Neuer Israel Fonds Deutschland.


Contra – Michael Wuliger: Die Diskursräume werden jetzt endlich größer.

Die Meldung vom Rücktritt Peter Schäfers als Direktor des Jüdischen Museums Berlin war kaum in der Welt, da begann auch schon die Mythenbildung. »Jetzt werden die Diskursräume wirklich eng«, twitterte beispielsweise Stephan Detjen, Chefkorrespondent des Deutschlandradios: »Erst BDS-Beschluss im Bundestag, jetzt Rücktritt des JMB-Direktors nach Intervention von Netanjahu.

Beunruhigende Entwicklung.« Ins selbe Horn stießen Moshe Zimmermann und der ehemalige israelische Boschafter in Deutschland, Shimon Stein, im Berliner »Tagesspiegel«: »Die israelische Regierung zensiert kulturelle Einrichtungen. Deutsche Politiker wirken eingeschüchtert. Das ist eine Gefahr für die Meinungsfreiheit.« Von »Zensur« spricht auch eine Erklärung judaistischer Fachkollegen von Professor Schäfer aus aller Welt.

Kritik Von den verschwörungstheoretischen Anklängen – Netanjahu und seine hiesigen Helfershelfer sind schuld – einmal abgesehen: Die Diskursräume im Jüdischen Museum werden durch den Rücktritt des bisherigen Direktors nicht enger. Im Gegenteil. Sie können jetzt endlich weiter werden. Denn die seit Jahren immer wieder geäußerte Kritik an dem Museum hatte sich nie daran entzündet, dass im Libeskindbau Israelkritik zu Wort kam. Stein des Anstoßes war, dass es fast ausschließlich solche Stimmen waren.

»In Zukunft wird das Museum hoffentlich ein Raum für plurale, kontroverse jüdische Debatten werden.« Michael Wuliger

Die pro-israelische Perspektive blieb meist ausgeklammert, obwohl die große Mehrheit der hiesigen Juden eher diesem Standpunkt zuneigt. De facto grenzte das Jüdische Museum damit das Gros der deutschen Judenheit aus. Das war es, was für berechtigten Unmut gesorgt hat. Hätte beispielsweise die Pressestelle des JMB diverse publizistische Meinungen zum BDS-Beschluss des Bundestags veröffentlicht – pro und contra –, wäre der Link zum »taz«-Artikel und der Erklärung der 240 jüdischen und israelischen Wissenschaftler ein Standpunkt unter vielen gewesen; niemand hätte sich aufgeregt. Der Skandal war, dass das Museum eben nur diese eine Position publik und sich damit faktisch zu eigen gemacht hat. Das weckte den – berechtigten – Verdacht, dass es dem JMB nicht um Information ging, sondern um Indoktrination im Sinne einer bestimmten politischen Linie.

Positionen In Zukunft wird das JMB also hoffentlich und tatsächlich ein Raum für plurale, kontroverse jüdische Debatten werden, in denen alle Positionen zu Wort kommen, sogar einschließlich derer, die die israelische Regierungspolitik gutheißen. Auch die müssen dort offen vorgetragen und ebenso offen und hart kritisiert werden können. Ein Diskursraum muss die Wirklichkeit widerspiegeln, selbst wenn sie einem nicht gefällt. Und zur Wirklichkeit gehört, dass Netanjahus Politik von beträchtlichen Teilen der israelischen Bevölkerung unterstützt wird – siehe Wahlergebnisse. Auch unter Deutschlands Juden hat Bibi seine Anhänger, mehr als manchen vielleicht lieb ist.

Anhänger unter Deutschlands Juden hat auch die BDS-Bewegung. Es sind zwar wenige. Man kann sie trotz aller publizistischen Prominenz, die ihnen aus durchsichtigen Gründen gern eingeräumt wird, an ein paar Fingern abzählen. Für die jüdische Gemeinschaft sind sie so repräsentativ wie die »Juden in der AfD«, und ähnlich unappetitlich. Aber es gibt sie. Sollte man auch sie zu Wort kommen lassen? Oder lieber, wie die Wiener sagen, nicht einmal ignorieren?

Podium Rein pädagogisch spräche einiges dafür, auch diesen Stimmen ein Podium zu geben – als abschreckendes Beispiel. Ich empfehle, die Facebookseite der derzeit bekanntesten jüdischen Israelkritiker von dem Kleinverein »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost« zu besuchen. Die geifernde Selbstgerechtigkeit, die man dort sieht, gepaart mit einem penetrant vorgetragenen Opferhabitus, ist wenig attraktiv. Die argumentative Überzeugungskraft geht gegen Null, außer für diejenigen natürlich, die auch vorher schon die Ansicht der Betreiber teilten. Bei einer Debatte mit sachlich ausgewiesenen Gegnern würde, um mit Mao zu sprechen, den jüdischen BDS-Fans der Stein, den sie erhoben haben, auf die eigenen Füße fallen.

Doch das würden sie nicht einmal merken. Und selbst wenn, wäre es ihnen egal. Extremisten vom linken wie vom rechten Narrensaum, ob »Jüdische Stimme« oder »Juden in der AfD« (ich weiß, der Vergleich ist für beide gleichermaßen beleidigend; deshalb wiederhole ich ihn auch), suchen vor allem eines: Legitimität. Sie wollen, dass ihre Positionen von der jüdischen Gemeinschaft als rechtens und vertretbar anerkannt werden. Doch das sind sie nicht. Nicht, weil sie minoritär sind, auch nicht wegen ihrer sichtbaren Irrationalität.

Der Grund ist ganz simpel. Es gibt im Judentum ein unverrückbares Tabu: Man lässt sich nicht mit Antisemiten ein. Und beide, jüdische BDS- wie AfD-Anhänger und -Apologeten, tun eben das. Ist das eine »Verengung des Diskursraums«? Ja, natürlich. Und wir sollten dazu stehen. Meinungspluralismus ist ein hohes Gut. Die eigene moralische Integrität aber auch.

Michael Wuliger ist Buchautor und Kolumnist der Jüdischen Allgemeinen.

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