Die Freikorpssöldner, die vor knapp 100 Jahren, am 15. Januar 1919, Rosa Luxemburg in Berlin ermordeten, taten dies nicht nur, weil ihr Opfer Sozialistin war, die mit ihren Reden und Schriften die Novemberrevolution 1918 mit initiiert hatte; sie handelten auch bewusst aus Antisemitismus. Die 1871 in Zamocz nahe der russisch-polnischen Grenze geborene Luxemburg galt der deutschen Rechten als Inkarnation des verhassten internationalen Judentums.
Dabei verstand die von ihren Feinden so Apostrophierte sich selbst schon lange nicht mehr als jüdisch. Wie viele andere Juden in der revolutionären Bewegung begriff sie sich als »Internationalistin«. Zwar hatte die Enkelin eines Rabbiners eine gewisse jüdische Erziehung genossen – ihr Vater, ein wohlhabender Kaufmann, war ein Anhänger der jüdischen Aufklärungsbewegung Haskala. Sie hatte in ihrer Jugend auch Jiddisch gelernt und pflegte ihre Parteitagsnotizen in dieser Sprache zu notieren. Doch in ihrem Denken lässt sich kein spezifisch »jüdischer« Aspekt und in keiner Phase ihres Lebens und Wirkens ein überdeutliches Interesse an jüdischen Problemen erkennen.
Als ihre Freundin Mathilde Wurm sie einmal auf die »Judennot« und die »speziellen Judenschmerzen« im Russland der zaristischen Pogrome aufmerksam machte, reagierte Luxemburg abweisend: Sie habe keinen »Sonderwinkel im Herzen für das Ghetto«, sie fühle sich in der ganzen Welt zu Hause, überall dort, wo es Menschentränen gäbe. Dabei verdrängte sie wohl, dass ihre eigene linke Sozialisation nicht zuletzt durch den Antisemitismus in Gang gesetzt worden war.
Luxemburgs enge Freundin Luise Kautsky wusste darüber zu berichten: »Vor allem aber waren es die entsetzlichen Judenpogrome, die auf Rosa erschütternd und aufreizend wirkten, sie zum Hass und Verachtung aufstachelten und unauslöschliche Eindrücke in ihrem jugendlich-empfänglichen Gemüte hinterließen.«
Doch das war lange her gewesen. Inzwischen hatte Rosa Luxemburg ihr Judentum vermeintlich längst hinter sich gelassen. So bekämpfte sie vehement den jüdisch-revolutionären »Bund« in Russland, der für jüdische kulturelle Autonomie innerhalb der sozialistischen Bewegung stritt. Sie ging so weit, seinen Führern »jüdische Schlauheit« vorzuwerfen
Diese und ähnliche, vermeintlich »typisch jüdische« Eigenschaften attestierten ihr selbst freilich ihre eigenen Gegner auch. Nicht nur die auf dem rechten Spektrum, sondern auch in der eigenen Partei, der SPD.
Für sie blieb die Galionsfigur des linken Flügels eine zugewanderte Ostjüdin. »So ist es bei ihnen immer«, klagt Rosa Luxemburg einmal in einem Brief: »Wenn sie in Not sind, dann hilf, Jude! Und wenn die Not vorbei ist, dann raus mit dir, Jude.«
Dennoch gerierte sie sich gegenüber parteiinternen antisemitischen Anfeindungen meist unempfindlich bis immun. Nur einmal verlor Luxemburg die Contenance. Als sie 1903 von dem führenden SPD-Rechten Wolfgang Heine zum wiederholten Mal als Jüdin attackiert worden war, reagierte die Angegriffene mit einer scharfen Erklärung im Parteiorgan Vorwärts gegen die »antisemitischen und ausländer-fresserischen Ausfälle« des Genossen, der sich mit seiner antijüdischen Hetze »moralisch auf das Niveau der preußischen Polizei« stelle.
Gegen Ende ihres Lebens stößt man bei Rosa Luxemburg dann doch noch auf einen Hauch von Sympathie für das jüdische Volk und seine Geschichte. Im Gefängnis übersetzte sie 1916 ein Werk Wladimir Korolenkos, der auf die legendäre Gestalt des weisen Menachem in Flavius Josephus’ Der jüdische Krieg Bezug nahm. Sie schreibt – das einzige Mal, dass der Gott der Juden und das Reich des Messias in den Schriften Rosa Luxemburgs erwähnt werden: »O, Adonai, Adonai! Lass uns nie, solange wir leben, dem heiligen Gebote untreu werden: dem Kampf wider das Unrecht. ... Auch ich glaube, o Adonai, dass dein Reich auf Erden kommen wird. Verschwinden wird Gewalt und Unterdrückung, die Völker werden zum Fest der Verbrüderung zusammenströmen, und nie mehr wird Menschenblut von Menschenhand vergossen werden.«
Knapp drei Jahre danach schlug ein Freikorpssoldat Rosa Luxemburg mit dem Gewehrkolben zusammen; ein Leutnant setzte ihr anschließend die Pistole an die Schläfe und drückte ab; die Leiche warfen die Täter in den Landwehrkanal.