Frau Kupferberg, Ihr Urgroßonkel Isidor hat bis in die 1930er-Jahre in Wien gelebt. Wie war er, wenn er durch die Stadt ging?
Ich habe ganz wenige Fotos von Isidor gefunden, aber die, die ich gefunden habe, zeigen allesamt einen unglaublich stolzen Mann. Bestimmt auch recht autoritär und herrisch, nicht nur sympathisch aus heutiger Sicht. Aber sie zeigen jemanden, der in seinem Blick hatte: Ich will! Ich bin jemand! Ich hab’s geschafft! Ich glaube, er war wahnsinnig stolz und hatte dazu auch guten Grund, denn er hatte sich aus der eigenen Misere herausgezogen. Heraus aus der Armut, aus der Ultraorthodoxie, aus dem Elend. Er hatte einen so weiten Weg zurückgelegt: aus dem kleinsten galizischen Schtetl – fernab irgendeiner Metropole – bis ins große und elegante Wien. Ich meine, seinem Gang auf den Fotos zu entnehmen, dass er genau diesen Stolz verkörperte.
Wie mag der Gang des Isidor gewesen sein, der gerade in Wien angekommen war?
Auch sicherlich mit einer gewissen Genugtuung: Ich habe es bis hierher geschafft; jetzt wartet die große weite Welt auf mich, jetzt pack’ ich’s an, jetzt werde ich es allen zeigen! Ich glaube, er war unheimlich motiviert, jemand zu werden. Er hatte mehrere Stationen hinter sich, als er in Wien ankam. Wie er aus diesem, man muss es wirklich sagen, hinterletzten Kaff, Lokutni – auf GoogleMaps ist das heute nicht mehr als eine Straße mit zwei Häuschen – über Tlumacz, Kolomea, Lemberg, dann in die große kaiserliche Metropole Wien gekommen war, das muss für ihn faszinierend gewesen sein. Ich stelle ihn mir vor, wie er mit ganz großen Augen und hochmotiviert durch dieses Wien geht und sagt: Ich zeig’s euch, denn ich bin einer von denjenigen, die es hier machen werden. Ich rock den Laden.
Die Reise war sicherlich anstrengend und gefährlich …
Gefährlich, aber was hat er aufgegeben? Er kam aus der größten Armut, aus einem sehr religiösen Milieu, was ihn nicht interessiert hat. Ihn hat die deutsche Sprache gereizt, nicht das Jiddische. Aber dennoch war da bestimmt Angst, es nicht zu schaffen, zu scheitern, zurückkehren zu müssen, voller Schmach, und einzusehen: Irgendwie geht es doch nicht. Aber so, wie ich ihn nach meinen Recherchen einschätze, war er jemand, hätte er es nicht in Wien geschafft, hätte er es woanders probiert. Er wollte raus aus dieser Enge und Düsternis.
Ein wichtiger Ort für Ihre Recherchen war die Wohnung ihrer Großeltern in Tel Aviv. Wie war es, diese Wohnung zu betreten?
Die Wohnung meiner Großeltern in Tel Aviv, die ich seit klein auf kenne, weil wir jeden Sommer dorthin fuhren, diese Wohnung also von Walter und Alice, ist bis heute ein Zuhause für die ganze Familie. Sie hat bauhausartige Züge, war immer sehr schlicht eingerichtet, fast kibbuzhaft. Nachdem mein Großvater aus Wien und meine Großmutter aus Berlin nach Palästina geflüchtet waren, lernten sie sich in der kommunistischen Partei kennen. Beide waren sehr links, und das spiegelte sich auch in der Wohnung und vor allem in der umfangreichen Bibliothek wieder – übrigens: bestehend vor allem aus deutschsprachiger Literatur.
Sie haben dort vor allem alte Fotoalben und Briefe der Familie gefunden.
Meine Schwester und ich haben die beiden Großelternpaare unglaublich gelöchert und gesagt: Erzählt doch mal von früher, und das haben sie auch sehr gern getan. Unsere Großeltern haben uns auch immer Fotos gezeigt, aber erstaunlicherweise haben sie uns einige Dokumente und Fotos – vor allem aber Dokumente − offenbar nicht gezeigt. Und die fand ich im Zuge meiner Recherche auf dem Hängeboden der Tel Aviver Wohnung. Mein Großvater hatte nichts weggeworfen. Es war ein so berührender Überraschungsfund, der mich sehr bewegt hat.
Können Sie vermuten, warum er Ihnen diese Briefe nie gezeigt hat?
Ich habe mir diese Frage auch gestellt. Ich kann mir nur erklären, dass sie es nicht für sehr interessant für uns Enkelkinder gehalten haben müssen. Als Historiker führte mein Großvater Walter viele Briefwechsel, aber mir war nicht klar, welche Dimension diese Briefwechsel hatten. Briefe aus den 1910er-, 1920er-, 30er- oder 40er-Jahren der Familie, Briefwechsel mit Wiener Freunden, die in alle Welt fliehen mussten, als Hitler einmarschierte. Er schrieb sich mit alten Schulkameraden, die in Brasilien, den USA, in Australien Zuflucht fanden.
War das der Moment, in dem Sie dachten: Ich muss das für mich ordnen?
Die Briefe waren in der Tat ein Auslöser für mich, alles einmal aufzuschreiben. Meine generelle Isidor-Recherche begann allerdings schon früher – vor viereinhalb Jahren, als ich eine Tagung über NS-Raubkunst und Provenienzforschung in Berlin moderierte. Das Thema war spannend, und während der Tagung kam mir der Gedanke, dass es doch da angeblich diesen reichen Urgroßonkel in Wien gegeben haben soll, der angeblich in einem Palais gelebt hatte, und dort muss doch auch Kunst gehangen haben, dachte ich mir. Also begann ich zu recherchieren; und ja: Es gab diesen Onkel, und alles bestätigte sich. Ich fragte mich, warum er so reich war, ich wusste, dass er aus ärmlichsten Verhältnissen in Galizien stammte. Die Familienbriefe, die dann hinzukamen, waren ein Turning Point. Ich habe angefangen, sie wie besessen zu lesen. Und die Handschriften hatten es in sich. Insbesondere die von Isidors Schwester Franziska, die eigentlich Fejge, also »Vögelchen«, hieß. Plötzlich bekamen alle diese Figuren Stimmen. Die Schilderungen sind so persönlich, manchmal auch ganz banal, aber dieses Personentableau wurde haptisch. Die Stimmen wurden hörbar.
Die Briefe von Franziska sind alles andere als leicht.
Sie sind total berührend und niederschmetternd. Insbesondere die Zeit, in der nicht sicher war, ob sie es schaffen würden, zu fliehen oder nicht. Das Nadelöhr war für die Wiener Juden sowieso eng. Die Nazis sind im März 1938 einmarschiert und hatten schon einige Jahre Zeit gehabt, im Deutschen Reich auszuprobieren, wie man Juden verfolgt und enteignet. Jeden Tag wurden neue Gesetze der Nazis gegen Juden in Wien erlassen, die Hetzstimmung gegen die Juden war enorm. Die Tage, in denen es überhaupt möglich war, die Flucht aus Wien zu ergreifen, waren gezählt. Für meine Urgroßmutter Franziska und ihren Mann Emil war an Flucht überhaupt nicht zu denken. Franziska pflegte zunächst ihren geliebten Bruder Isidor, als er aus der Haft gekommen war. Aber als Isidor dann starb, war ihr klar, dass etwas passieren musste. Die Briefe aus dieser Zeit sind so erschütternd, und es ist oft das Unausgesprochene, das beim Lesen erschüttert, das, was zwischen den Zeilen steht.
Was hat Sie bei der Recherche in Archiven überrascht?
Am meisten vielleicht, dass alles da ist. Dass die Nazis gründlich waren, das ist bekannt. Dass aber so viel, was sie an Bürokratischem festgehalten haben, in Archiven zu finden ist, das hat mich umgehauen. Diese Tatsache hat mich erstaunt. Es gab auch skurrile Funde, wie alte Kurlisten aus Bad Ischl oder Baden bei Wien aus den 1910er- bis 30er-Jahren, aus denen ich dann herleiten konnte, wann Isidor mit wem in die Sommerfrische ging.
Die erschreckende Präzision reichte bis in den Alltag rein.
Jeder Mokkalöffel. Jeder Jude musste eine sogenannte Vermögenserklärung gegenüber den Nazis machen. Eine komplette Auflistung sämtlichen Besitzes. Ich wollte auch herausfinden, was mit seinem Hab und Gut passierte. Die Ausfuhrliste seines Containers, eines Lifts, wie es damals hieß. Ich habe Schreibmaschinenseiten voller Listen mit Angaben zu Dingen wie Sofas, Geschirr, Kleidung, Jam-Ständer, Plumeaus oder Unterhosen. Das Perfide darüber hinaus war, dass Juden, die ihren Hausrat mitnahmen, den von den Nazis geschätzten Gegenwert noch einmal bezahlen mussten! Das waren Funde, die mich erschüttert haben. Wie unverblümt all die Sachverständigen ihre Stempel und Unterschriften daruntergesetzt haben. Ich frage mich: Wer waren diese Typen, was haben sie sich dabei gedacht?!
Die erste Reise Ihres Großvaters nach dem Krieg zurück nach Wien war für ihn entscheidend, um nicht mehr nach Österreich zurückzukehren – aufgrund einer Begegnung.
Das war 1956. Er haderte mit seinem Leben in Israel, es gefiel ihm gar nicht. Seine Frau Alice, Berliner Jüdin, wollte absolut nicht wieder nach Europa. Ihr war es gelungen, zwei Wochen vor der Reichspogromnacht nach Palästina zu fliehen. Ihre Eltern gingen nach Polen zu Verwandten, weil sie dachten, sie seien zu alt, ihnen werde schon nichts passieren. Es gab noch einen Briefwechsel Lemberg–Palästina, dann Ghetto, und dann wurden sie in den Wäldern um Lemberg erschossen und verscharrt. Meine Großmutter bekam Anfang der 50er-Jahre eine sogenannte »Wiedergutmachung« für die ermordeten Eltern und für die abgebrochene Schule. Das waren etwa 17.000 DM. Für sie war das Blutgeld. Und sie sagte: »Walter, fahr mit diesem Geld hin und schau dir erst einmal alles an.« Sie wollte das Geld nicht anrühren. Und diese Briefe aus Wien, die er ihr schrieb, die sind so berührend, so atemlos. Er war in seinem Wien und fühlte sich wie ein Fisch im Wasser. Und dann endet diese Reise so, dass es kein Zurück mehr gab. Danach sortierte er sein Leben neu, studierte, wurde Historiker und gründete das Institut für deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv.
Wenn Isidor jetzt neben Ihnen säße, was würden Sie ihn fragen?
Was ihn getrieben hat, zu sagen: Ich schaff das! Ich würde gern von ihm wissen, wie er sein Jüdischsein definierte. Er wusste, woher er kam, und bestand vor seinem Tod auch darauf, wieder in die jüdische Gemeinde einzutreten. Irgendwas muss ihn gehalten haben, obwohl er immer verdrängen wollte. Aber die Frage aller Fragen wäre natürlich: Warum bist du nicht vorher abgehauen!? Ich bin überzeugt davon, dass er in Kreisen unterwegs war, in denen er informiert worden war. Er hielt es vielleicht für undenkbar, dass er, der so viel für den Staat getan hat, nicht mehr gewollt war. So stelle ich mir unser Zusammentreffen vor. Und ich wäre bereit gewesen, ihm eine schöne Opernkarte zu schenken.
Für welche Oper?
Schon eher so etwas wie Puccini, so ein schöner Schinken eben. Ich wäre gern mit ihm in die Oper gegangen.
Mit der Autorin und Journalistin sprach Katrin Richter.
Shelly Kupferberg: »Isidor. Ein jüdisches Leben.« Diogenes, Zürich 2022, 253 S., 24 €