Essay

Irre!

Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft. Foto: Thinkstock

Je länger das Dritte Reich tot ist», schrieb der Journalist Johannes Gross (1932–1999), «umso stärker wird der Widerstand gegen Hitler und die Seinen.» Aber auch das Interesse für den Führer, seine Frauen, seine Generäle, seine Krankheiten, seine Hobbies, seine Tierliebe, seine Unterhosen samt Inhalt, seine Ess- und Schlafgewohnheiten, seine Homo- oder überhaupt Sexualität, seine Postkarten und seine Kammerdiener.

Während das Langzeitgedächtnis der Deutschen immer besser funktioniert und die Enkel sich an Ereignisse erinnern können, die den Großeltern entfallen waren, lässt das Kurzzeitgedächtnis immer weiter nach. Ich staune immer wieder, was die «hart arbeitenden Menschen», an die sich die Politiker aller Parteien wenden, den Politikern so alles durchgehen lassen, als gäbe es kein Internet und kein Google.

Martin Schulz, zum Beispiel, der große Hoffnungsträger der SPD, hat noch im Mai 2016 in einem Interview mit der Welt gesagt: «Mein Platz ist in Brüssel.» Seine Agenda sei «so voll», dass er keine Zeit habe, über seine Zukunft nachzudenken. Dabei hat Schulz während seiner fünf Jahre als Präsident des Europaparlaments nichts anderes getan als sich selbst zu protegieren.

Erst wollte er seinen besten Freund Jean-Claude Juncker beerben und Präsident der EU-Kommission werden, und als das nicht geklappt hat, setzte er Himmel und Hölle in Bewegung, um wenigstens Präsident des Europaparlaments bleiben zu können. Erst als klar wurde, dass ihm das Parlament die Gefolgschaft verweigern würde, beschloss Schulz, Kanzler der Bundesrepublik zu werden. Einfach nach Würselen zurück zu gehen und jeden Tag im «Aquana»-Spaßbad ein paar Runden zu drehen, kam für ihn nicht in Frage. Das ist menschlich verständlich; ich wundere mich nur, dass er darauf nicht angesprochen wird.

angst Schulz’ Durchmarsch an die Spitze der Partei muss etwas mit der extrem dünnen Personaldecke der SPD zu tun haben, die auch ein scheues Reh wie Katarina Barley und einen Grobian wie Ralf Stegner in Spitzenpositionen befördert hat. Schulz wird nicht zum Kanzler gewählt werden. Darauf wette ich meine 1001 Schneekugeln. Das hat weniger mit seinen Führungsqualitäten zu tun als mit einem «Missverständnis», das der Autor Markus Vahlefeld so beschreibt: «Ganz offenkundig weigern sich die Deutschen nicht, einem Führer zu folgen, sondern sie haben nur Angst, dass es nochmal der falsche sein könnte.»

Angela Merkel hat sich als die Richtige erwiesen. Innen borstig, außen flauschig. Und jederzeit bereit, das Gegenteil von dem zu tun, was sie gestern gesagt hat. Ende August 2015 verkündete die Kanzlerin, die «Bewältigung des Flüchtlingsproblems» sei «eine nationale Aufgabe, die jeden angeht», beziehungsweise «eine große, nationale Herausforderung», an der «jeder seinen Anteil» übernehmen müsse. Ende April 2017 beriet die Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten der Länder, wie die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber effizienter gestaltet werden könnte, unter an derem durch den Einsatz von freiwilligen Helfern. Dafür sei eine «nationale Kraftanstrengung» vonnöten.

Wie schnell sich doch die nationalen Prioritäten ändern. Gestern hieß es «Refugees welcome!», heute «Refugees go home!» Ich finde, statt Beamte des mittleren und des gehobenen Dienstes zu requirieren, könnte man die vielen Jubler dienstverpflichten, die die Flüchtlinge bei ihrer Ankunft begrüßt haben. Merkel, schreibt Vahlefeld, habe «die Entpolitisierung der Politik» vorangetrieben, mit dem Ergebnis, dass sich «Politik in salbungsvollen Kitsch» verwandelt habe. Das ist noch vornehm ausgedrückt. Sie hat die Politik infantilisiert, mit Sätzen wie: «Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.»

unheil Ein freundliches Gesicht zu zeigen, ist alles, was man leisten muss, um in der Gemeinschaft der Guten einen Platz zugewiesen zu bekommen. Sie setzt sich aus Menschen zusammen, die in ihrer Wahrnehmung mehrmals am Tag mal eben kurz die Welt retten, tatsächlich aber Unheil anrichten. Man könnte es auch mit den Worten des bayerischen Schriftstellers, Religionskritikers und Nervenarztes Oskar Panizza zusammenfassen: «Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft.»

Oder noch knapper: «Willkommen im Irrenhaus Deutschland!» Willkommen in einem Land, dessen kinderlose Kanzlerin von ihrem Volk «Mutti» gerufen wird. Willkommen in einem Land, in dem «Willkommenskultur» als Abschaffung der nationalen Souveränität praktiziert wird. Willkommen in einem Land, dessen Außenminister sich in Israel mit «Regierungskritikern» und «Vertretern der Zivilgesellschaft» trifft, der aber als Wirtschaftsminister nichts Vergleichbares unternommen hat, als er den Iran besuchte. Willkommen in einem Land, dessen Einwohner keine Deutschen, sondern nur noch «Europäer» sein wollen. Willkommen in einem Land, das der ganzen Welt ein Vorbild sein will: bei der Müllentsorgung, beim Klimaschutz, bei der Energiewende, die bis 2050 vollendet sein soll, zugleich mit der Reform der gymnasialen Oberstufe.

Willkommen in einem Land, in dem eine Zwangsgebühr als «Demokratie-Abgabe», als «ein Beitrag für die Funktionsfähigkeit unseres Staatswesens und unserer Gesellschaft» deklariert wird. In dem allen Ernstes darüber debattiert wird, ob sich die Gesellschaft den Zuwanderern «öffnen» soll, oder die Zuwanderer die Regeln der Gesellschaft annehmen sollen. Willkommen! Herzlich willkommen! Und nochmal Willkommen, Bienvenue, Welcome! Im Cabaret an der Spree geht die Post ab.

Der Text ist ein Auszug aus dem Vorwort zu Markus Vahlefelds Buch «Mal eben kurz die Welt retten». epubli, Stuttgart 2017, 240 S., 16 €

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025