Herr Ariely, Sie lehren Verhaltensökonomie. Was ist das?
Die traditionelle Wirtschaftswissenschaft geht von einigen sehr starken Annahmen aus, wie Menschen sich verhalten. Verhaltensökonomie verzichtet auf diese Annahmen. Wir wollen herausfinden, wie sich Menschen in ökonomischen Zusammenhängen tatsächlich verhalten. Meist nämlich nicht so, wie es die Theorie voraussagt. Die Wirtschaftswissenschaft ist wie eine Religion, mit einigen Grundannahmen, die nicht infrage gestellt werden …
Etwa, dass Menschen sich grundsätzlich rational verhalten?
Genau. Dass Menschen eindeutige, durchschaubare Präferenzen haben. Wir setzen diese Dinge nicht voraus. Stattdessen gehen wir empirisch vor. Anstatt Dinge einfach anzunehmen, machen wir Experimente.
Und was finden Sie dabei heraus?
Wir erkennen, dass Menschen in vielerlei Hinsicht irrationale Tendenzen haben. Das bedeutet nicht, dass Menschen gar nicht auf ökonomische Anreize reagieren. Es bedeutet nur, dass das nicht die vollständige Beschreibung normalen menschlichen Verhaltens ist.
Ein Beispiel?
Warum arbeite ich? Geld spielt natürlich eine wichtige Rolle – das heißt, der ökonomische Anreiz, dass man bezahlt wird. Die Standardtheorie besagt, dass man eine Kosten-Nutzen-Kalkulation macht und versucht, den Nutzen zu maximieren: Wenn Sie mehr Geld bekommen, arbeiten Sie mehr, wenn Sie weniger bekommen, arbeiten Sie weniger. Aber Sie arbeiten nicht nur für den Lohn. Was ist zum Beispiel mit dem Gefühl, etwas zu vollenden, etwas zu erreichen? Es gibt viele Dinge, die nichts mit einer externen Belohnung zu tun haben und die Sie dennoch motivieren.
Sind diese Gefühle wirklich irrational?
Die Frage ist, wie man »irrational« definiert. Eine Definition, die mir gut gefällt, lautet: Irrational ist ein Verhalten dann, wenn die Person selber nicht versteht, was sie motiviert. Wenn Menschen nicht wissen, welche Kräfte ihr Verhalten antreiben. Das ist das Gebiet, auf dem Menschen Fehler machen. Dieser Bereich interessiert mich, denn er hat Auswirkungen auf die Politik.
Welche?
Nehmen Sie das Erziehungswesen. Welchen Anreiz gibt man Lehrern, um die Lehre zu verbessern? In den USA tut man das über Bezahlung: Man bezahlt sie besser oder schlechter, je nachdem, wie ihre Schüler abschneiden. Das hat sich als verheerend herausgestellt.
Weil die Lehrer dann bessere Noten vergeben, als angemessen wäre?
Nicht nur. Die Lehrer versuchen auch, schlechte Schüler irgendwie aus ihren Klassen zu entfernen. Und die Qualität der Lehre hat sich dadurch überhaupt nicht verbessert.
Was wäre denn die bessere Lösung?
Man muss sich fragen: Was motiviert die Lehrer wirklich? Wie sehr liegen ihnen die Schüler am Herzen? Ich habe vor ein paar Wochen einen Brief an meine frühere Englischlehrerin geschrieben. Sie war meine Lieblingslehrerin, und ich wollte ihr zeigen, dass das, was aus mir geworden ist, auch mit ihr zu tun hat. Solche Sachen zeigen den Leuten, dass das, was sie tun, etwas bewirkt.
Heißt das im Umkehrschluss, dass Lehrer schlechter bezahlt werden sollten? Schadet gute Bezahlung der internen Motivation?
Keineswegs. Wir sollten Lehrer grundsätzlich mehr respektieren, wozu auch ein gutes Festgehalt gehört. Aber wenn man sie danach bezahlt, wie ihre Schüler im Examen abschneiden, dann konzentrieren sie sich nur darauf und nicht auf die Lerninhalte oder auf die Schüler als Personen.
Welche Beispiele für irrationales Verhalten im Alltag gibt es?
Etwa, dass wir auf Sonderangebote hereinfallen. Oder Rache: Völlig irrational, bringt uns gar nichts, fühlt sich nur gut an. Oder Geld spenden: Es bringt einem keinen finanziellen Vorteil. Sie fühlen sich einfach nur besser.
Spenden ist doch nun nichts Schlechtes …
Viele Dinge sind irrational, aber man möchte sie nicht missen. Wenn Sie Passanten nach dem Weg fragen – warum sollten sie Ihnen helfen? Warum sollten Bürger zur Wahl gehen? Warum gibt man der Kellnerin ein Trinkgeld? Menschen lügen und betrügen auch, aber nicht in dem Ausmaß, wie sie es eigentlich müssten, wenn man den Menschen als Nutzenmaximierer sieht. Irrationalität kann eine wunderbare Sache sein, und sie ist nicht mit Dummheit gleichzusetzen. Oder würden Sie jemanden heiraten wollen, der ausschließlich den eigenen Nutzen maximiert?
Dan Ariely: Fühlen nützt nichts, hilft aber. Warum wir uns immer wieder unvernünftig verhalten. Droemer, München 2010, 368 S., 19,99 €
Das Gespräch führte Ingo Way.
Dan Ariely wurde 1967 in New York geboren und wuchs in Israel auf. An der Universität Tel Aviv studierte er zunächst Physik und Mathematik, später Philosophie und Psychologie. Ariely ist Professor für Psychologie und Verhaltensökonomie an der Duke University in North Carolina (USA).