Spurensuche

Irgendwo im Nirgendwo

A semmi közepén», sagte meine ungarische Freundin. «Irgendwo im Nirgendwo». Sie zeigte auf der Karte einen kleinen Punkt an der nordöstlichen Spitze Ungarns. «Das ist Kisvárda. Was willst du dort?»

Ich wollte dort meine Wurzeln suchen. Aus Kisvárda stammt meine Familie. Mein Urgroßvater Moritz Wulliger wanderte von dort Anfang des 20. Jahrhunderts mit seiner Frau Nina, geborene Reich, und seinen drei Kindern in die USA aus, wo das zweite «l» im Familiennamen wahrscheinlich dem Schreibfehler eines Einwanderungsbeamten zum Opfer fiel. Moritz ließ sich in Cleveland/Ohio nieder, amerikanisierte seinen Vornamen zu Morris und gründete eine Matratzenfabrik.

Grenzgebiet Sein mittlerer Sohn, mein Großvater Joseph Wuliger, 1888 in Kisvárda zur Welt gekommen, heiratete Sarah Bone, ursprünglich Bonnowitz, mit der er zwei Söhne und eine Tochter hatte. Ihr ältestes Kind war mein Vater Robert Wuliger, geboren 1913. Ich, sein Sohn, Jahrgang 1951, würde jetzt nach mehr als 100 Jahren und vier Generationen wieder an den Ort zurückkehren, wo die Familiengeschichte begonnen hatte. Unter anderem deshalb war ich nach Ungarn gekommen.

Jüdischer Genealogietourismus lag zum Zeitpunkt meiner Reise gerade im literarischen Trend. Jonathan Safran Foers Erstling Alles ist erleuchtet war weltweit ein Bestseller und mit Elijah Wood in der Hauptrolle erfolgreich verfilmt worden. Der Roman erzählt von einem jungen amerikanischen Juden, der auf den Spuren seines Großvaters in die Ukraine reist. Zwei Jahre davor war Lily Bretts Buch Zu viele Männer erschienen. Dort ist es eine Frau um die 40, die mit ihrem Vater nach Polen fährt, um seine Geschichte nachzuerleben. Und ich würde mich jetzt in den Osten Ungarns begeben.

Mit dem Zug fährt man vom Budapester Westbahnhof etwas über vier Stunden nach Kisvárda. Die 18.000-Einwohner-Stadt befindet sich im Verwaltungsbezirk Szabolcs-Szatmár-Bereg, im Grenzgebiet zur Ukraine, der Slowakei und Rumänien. 70 Kilometer südöstlich liegt Satu Mare, das historische Sathmar, die Heimat der Satmarer Chassidim, einer ultraorthodoxen und dezidiert antizionistischen Sekte mit rund 100.000 Anhängern, von denen die meisten in Brooklyn leben. Zu ihren prominenteren Familien gehören die Wulligers, wohl entfernte Verwandte von uns. Wuligers, gleich in welcher Schreibung, sind vergleichsweise selten.

Den chassidischen Zweig kenne ich allerdings nur aus dem Internet: Auf einem YouTube-Video ist ein Rabbi Leibl Wulliger zu sehen, graubärtig und mit Strejmel auf dem Kopf, der vor Schülern einer Jeschiwa in Brooklyn einen Wochenabschnitt der Tora erläutert. Kontakt zu diesen frommen Angehörigen habe ich keinen. Sie würden mich sowieso nicht akzeptieren: Als säkularer Jude wäre ich für sie ein «Apikojres», ein Ungläubiger.

taxi Der Bahnhof von Kisvárda, ein realsozialistischer Zweckbau, liegt am Rand der Stadt. Der jüdische Friedhof, auf dem ich nach Spuren der Familiengeschichte forschen wollte, befindet sich rund sechs Kilometer entfernt am anderen Ortsende. Es gab einen Bus dorthin, aber den hatten meine Freundin und ich gerade verpasst. Der nächste fuhr erst wieder in einer Stunde. Taxis sahen wir keine. Wir fragten den Bahnhofsvorsteher. Der telefonierte eine Weile herum und sagte uns dann, ein Wagen komme in rund 20 Minuten.

Kisvárda ist eine mittelalterliche Gründung. Im Jahr 1421 erhielt der Ort die Stadtrechte. Das hatte ich auf Wikipedia gelesen und mir ein pittoreskes Städtchen vorgestellt. Tatsächlich war der Eindruck mehr der eines überdimensionierten Dorfs. Die Straßen waren breit, wirkten aber wenig urban. Obwohl mitten in der Woche und früher Nachmittag, war wenig los in der Stadt. Andere Fahrzeuge begegneten uns relativ selten. Auch Fußgänger sahen wir nur wenige. Die Häuser, an denen wir vorbeifuhren, waren meist zwei- oder dreigeschossig, einige aus der vorigen Jahrhundertwende, andere gesichtslose neuere Gebäude. Ich versuchte mir auszumalen, wie meine Vorfahren hier gelebt hatten. Es gelang mir nicht wirklich. Kisvárda hatte wenig an sich, das die Fantasie beflügelte.

Den jüdischen Friedhof umgab eine weiße Backsteinmauer. Das eiserne Gittertor war zugeschlossen. Der Taxifahrer brüllte etwas auf Ungarisch. Ein mürrischer älterer Mann in Jogginghose und Unterhemd kam aus einem kleinen Häuschen am Rand des Friedhofs herangeschlurft, einen Schlüsselbund in der Hand, und schloss uns wortlos auf. «Er ist um diese Tageszeit meist schon betrunken», raunte der Fahrer uns zu.

Ururugrossvater Rund eine halbe Stunde lang suchte ich auf dem 1839 errichteten Friedhof nach Spuren der Familie Wulliger. Im Internet hatte ich die Genealogie recherchiert, zurück zu meinem Urururgroßvater Balel Bezalel Wulliger oder Williger – die Schreibweise des Familiennamens ist unterschiedlich überliefert –, geboren 1790. Sein Sohn, mein Ururgroßvater Simon Wulliger, geboren 1820 in Kisvárda, dort gestorben 1911, war verheiratet mit Charlotte, geborene Weisz. Er hatte zwei Brüder, Jitzhak und Abraham.

Ich hatte mir vorgenommen, an ihren Gräbern Kaddisch zu sagen. In meiner Vorstellung gehörte das zur Dramaturgie dieser Reise. Weil ich in religiösen Dingen wenig firm bin, hatte ich den Text des Totengebetes von einer Website ausgedruckt, transkribiert in lateinische Buchstaben. Die Mühe hätte ich mir sparen können. Ich brauchte den Zettel nicht. Die letzten Ruhestätten der Wulligers blieben unauffindbar. Vielleicht, weil die älteren der rund 1000 Grabsteine zum Teil so verwittert waren, dass ich sie nicht entziffern konnte. Auf und zwischen den Gräbern wucherte Unkraut. Kisvárda hat keine funktionierende jüdische Gemeinde mehr, die sich um den Friedhof kümmern könnte.

Dabei war die Stadt einst ein kleines jüdisches Zentrum gewesen. Juden machten vor dem Holocaust ein Drittel der Bevölkerung aus. Sie nannten den Ort auf Jiddisch Kleinwardein. Auch die umliegenden Dörfer hatten hohe jüdische Bevölkerungsanteile. Im Frühjahr 1944 wurden die mehr als 7000 Juden aus Kisvárda und Umgebung von der ungarischen Gendarmerie in einem provisorischen Ghetto zusammengetrieben. Von dort deportierten die Deutschen sie zwei Wochen später, an Schawuot, nach Auschwitz.

Dort starben Armin Wulliger, Berta Wulliger, Charlotte Wulliger, Ethel Wulliger, Jenni Wulliger und Wilma Wulliger. Nur einige Hundert Kleinwardeiner Juden überlebten. Die meisten von ihnen hielt es nicht lange in ihrem einstigen Heimatort. Sie emigrierten ins Ausland oder zogen, wenn sie in Ungarn blieben, in größere Städte. Angehörige von mir waren nicht unter den Zurückgekehrten. Wulligers gibt es in Ungarn keine mehr.

deportation Unser Taxifahrer erzählte auf dem Rückweg, sein Vater habe ihm berichtet, dass, als 1944 die Juden abgeholt wurden, die Freude in der Stadt groß gewesen sei. Große, gute Wohnungen und Häuser wurden frei, die Bevölkerung bediente sich an nun herrenlosem Mobiliar und Kleidung. Die Begeisterung währte allerdings nicht lange. Wenige Wochen nach der Deportation war das Wirtschaftsleben in Kisvárda komplett zusammengebrochen, es gab kaum mehr Ärzte oder Anwälte. «Seitdem ist das hier ein Kaff.»

Ob wir noch zur Synagoge wollten, fragte der Fahrer dann. Die um die vorige Jahrhundertwende errichtete ehemalige Synagoge, ein imposanter Klinkerbau, ist heute ein Heimatmuseum. Eine Gedenktafel im Foyer erinnert an die ermordeten Juden der Stadt. Auf der offiziellen Website von Kisvárda wird das Museum neben einer mittelalterlichen Burg als Touristenattraktion angepriesen. Auch der Friedhof findet dort als Sehenswürdigkeit Erwähnung.

Für ein so antisemitisches Land wie Ungarn sei das eine erstaunliche Gedenkkultur, sagte ich zu meiner Freundin. Die war skeptisch: Es handele sich, meinte sie, wohl eher um den Versuch, Erinnerungstourismus von Nachkommen der Kleinwardeiner Juden anzulocken – «Leute wie du» –, um die Wirtschaft der Stadt ein bisschen zu beleben. Falls das der Fall ist, wird das örtliche Fremdenverkehrsamt allerdings noch etwas an seiner Professionalität arbeiten müssen. Die Synagoge war geschlossen.

Rückfahrt Ein Zettel an der Eingangstür bat Besucher, bis spätestens 15 Uhr im Rathaus der Stadt vorzusprechen, um eine Besichtigung zu arrangieren. Wir schauten auf die Uhr. Es war viertel vor vier. In Kisvárda gab es für mich nichts mehr zu tun. Wir nahmen den
nächsten Zug zurück nach Budapest.

Spätabends dort am Westbahnhof angekommen, fuhren wir mit einem Taxi nach Hause. Wo wir gerade herkämen, wollte der Fahrer wissen. Aus Kisvárda, sagten wir ihm. «Kisvárda? Wo ist das?», fragte er. «A semmi közepén», antwortete meine Freundin: «Irgendwo im Nirgendwo.»

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