Seit der Antike haben Schriftsteller sich mit Tieren befasst, wenn sie es darauf anlegten, aus der Art und Weise des Umgangs mit einem mehr oder weniger sprachlosen Gegenüber etwas Neues über den anderen zu erfahren.
Die Liste an dem Menschen zugedachten Zuschreibungen tierischer Eigenschaften von aalglatt bis kohlrabenschwarz geht wahrscheinlich auf keine Kuhhaut. Und nichts, so lässt bereits ein flüchtiger Blick auf herausgehobene deutschsprachige Romanpublikationen der vergangenen Jahre erkennen, deutet darauf hin, dass das Tier als Metapher für menschliches Verhalten so bald literarisch ausgedient haben dürfte.
In Juli Zehs Roman Unterleuten etwa entzündete sich an einer in ihrer Existenz bedrohten Vogelart eine grundsätzliche Auseinandersetzung über den Umgang der Gesellschaft mit der ihr schutzlos ausgelieferten Kreatur; in Nis-Momme Stockmanns finster-faszinierendem Dorfroman Der Fuchs mutierten herumstreunende Füchse zu Vorboten einer dem Untergang geweihten, zur apokalyptischen Endzeitzone gewordenen Zivilisation.
BERLIN Dass der 1980 in Rechovot geborene, seit 2009 in Berlin lebende israelische Autor Ron Segal in Massen nach Jerusalem streunende Katzen zu den heimlichen Protagonisten seines zweiten Romans Katzenmusik gemacht hat, ergibt sich zweifellos ebenfalls nicht von ungefähr. Schon nach wenigen Seiten nämlich kommt die Hauptfigur des Romans, der Vespa-Kurier Eli, buchstäblich auf die Katz, als er mit seinem Motorroller einen Kater anfährt, das Tier schuld- und verantwortungsbewusst verarzten lässt – und es anschließend bei sich aufnimmt.
Wie Segal es im Folgenden versteht, uns zu Zeugen der aberwitzigen Odyssee seines Protagonisten durch das eben von den Erschütterungen des Sechstagekrieges in Mitleidenschaft gezogene Jerusalem von 1967 zu machen, ist durchaus gekonnt. Denn dass dieser Autor erzählen kann, steht außer Frage: Temporeich und in großer Fülle reiht er Anekdote um Anekdote aneinander über seinen tagein, tagaus auf seiner Vespa durch die Stadt knatternden kleinen Helden, der das Gute tun will und darüber nach und nach zu einer Art Retterfigur in trauriger Gestalt mutiert.
Bis Segal die Verfassung seines bereits erkennbar erschöpften Helden nach 145 ereignisreichen Seiten wie folgt kommentiert: »Tatsächlich hätte er viel dafür gegeben, ein anderer Mensch zu sein, jemand, auf dessen Schultern nicht diese schwere Last lag und der nicht von Schuldgefühlen gequält wird.«
KOTEL So verwandelt Segal seinen kleinen, zwanghaft das Gute wollenden, nicht Nein-sagen-könnenden Antihelden peu à peu in eine Art Don-Quichotte-Figur, die sich wacker ihrem Kampf gegen Windmühlen stellt. Und so sieht man Eli mal amüsiert, mal irritiert dabei zu, wie er seine fragwürdigen Botengänge ausführt, indem er mit Wunschzetteln Heilsuchender prall gefüllte Boxen zur Kotel transportiert.
Dass er damit unwissentlich einen Falschgeldring am Laufen hält, passt ebenso ins Bild des gutmütigen Toren, der bestohlen wird, im Streit einen anderen ungewollt ins Jenseits befördert und dessen Leichnam auf einem Tierfriedhof in Jaffa verscharrt, wie manches andere auch.
Dass Segal ihn obendrein in eine Liebesgeschichte mit der Exilrussin Anna verstrickt, bei der Eli sein Katzenfutter kauft, ist dann aber des Guten doch zu viel. So zwingt er seinen mit der Last der Geschehnisse irgendwann vollkommen überforderten Helden schließlich nach 230 Seiten in die Knie – und mit ihm den Leser.
ORAN Denn so leichthändig Segal es auch über weite Strecken hin vermag, das Post-Sechstagekrieg-Jerusalem zum Schauplatz einer Katzeninvasion zu machen, dessen Stimmung bisweilen an Albert Camus’ Rattenpest-versuchtes Oran erinnert, so sehr leidet sein Buch zum Ende hin unter der Last all der als Einzelgeschichten nicht zu einem Romanganzen zusammenfindenden Episoden. Denn vieles wirkt weniger der inneren Logik der Ereignisse geschuldet als bloß ausgedacht, was den Lesegenuss trübt. Zuletzt besteigt Eli, der nur noch wegwill, fluchtartig ein Flugzeug nach Sibirien – und der Leser klappt das Buch unbefriedigt zu.
»Das war’s, dachte Eli. Aus, vorbei! Er umklammerte die Armlehnen seines Sitzes und schloss fest die Augen.« Eli macht die Mücke. Okay. Ob er mit seiner Flucht die Kuh aber vom Eis geholt hat? Wir wissen es nicht. Doch wie auch immer: In der Not frisst der Teufel bekanntlich Fliegen!
Ron Segal: »Katzenmusik«. Deutsch von Markus Lemke. Secession, Berlin 2022, 235 S., 22 €