Derzeit hört man beinahe täglich von neuen Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz, die zahlreiche Branchen auf den Kopf stellen könnten. Nun macht ein KI-Modell der Universität Tel Aviv und der Ariel University von sich reden: Es kann jahrhundertealte Texte übersetzen, die einst in akkadischer Sprache und Keilschrift auf Tontafeln verfasst wurden.
Das Entschlüsseln solcher Schriften erfordert normalerweise jahrelange Arbeit von Experten, aber mithilfe künstlicher Intelligenz dürfte es bald möglich sein, dass die Assyriologie – also jene Wissenschaft, die sich mit dem Entziffern dieser Texte beschäftigt – deutlich an Tempo gewinnt.
Und das macht das KI-Modell der israelischen Forscher zu einem vielversprechenden Werkzeug. Schließlich ist die Erforschung der akkadischen Sprache aus verschiedenen Gründen wichtig. Sie ist nämlich nicht nur die erste semitische Sprache, sondern auch generell eine der ältesten Sprachen der Welt. Sie besser zu verstehen, würde auch bedeuten, die Geschichte der menschlichen Sprachentwicklung weiter ausleuchten zu können. Zudem wurde Akkadisch über 1500 Jahre lang im Nahen Osten gesprochen und liefert damit wichtige Erkenntnisse über die Geschichte des alten Mesopotamien. Also jener Region, die heute hauptsächlich das Gebiet des Irak umfasst und unter anderem für das Hervorbringen früher Hochkulturen bekannt ist.
Die neuen Entwicklungen aus Israel sind auch deshalb spannend, weil es viel mehr Tontafeln in Keilschrift gibt als Wissenschaftler, die sie erforschen könnten. Tatsächlich existieren Hunderttausende dieser Schrifttafeln, die oft über 5000 Jahre alt sind. Denkbar groß wäre der Erkenntnisgewinn, wenn es mithilfe von künstlicher Intelligenz irgendwann möglich wäre, all diese Tafeln zu entschlüsseln.
Entwickelt wurde das neue Modell unter anderem von den Forschern Shai Gordin, Gai Gutherz, Jonathan Berant sowie Omer Levy, die ihre Ergebnisse kürzlich in der Fachzeitschrift PNAS Nexus unter dem Titel »Translating Akkadian to English with neural machine translation« veröffentlichten. Darin erläutern sie unter anderem, dass sie für ihre Studie nicht die originalen Formen der Keilschriftzeichen auf den Tontafeln verwendeten, sondern die alten Keilschrift-Texte erst digitalisiert und dann maschinell ins Englische übersetzt haben. Hierfür entwickelten sie ein Computerprogramm, das diese Übersetzung automatisch durchführt. Zudem haben sie die untersuchten Texte in zwei Datensätze unterteilt, um ihr Modell zu trainieren und zu testen.
Ihr Fazit: Die Übersetzungen des KI-Modells wiesen eine hohe Qualität auf, allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen. Die Ergebnisse waren nämlich nur bei kurzen bis mittellangen Sätzen besonders verlässlich. Darüber hinaus bedurften sie noch menschlicher Korrekturen. Neben korrekten und fehlerhaften Übersetzungen machten die Forscher zudem eine weitere Kategorie aus: die »Halluzinationen«. Gemeint sind damit Übersetzungen, die einen sinnvollen Anschein erwecken, aber mit der tatsächlichen Bedeutung des Ausgangstextes nicht übereinstimmen. Das KI-Modell braucht also noch etwas mehr Training.
Bei dem Ansatz, eine Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine voranzutreiben, liegt der Fokus ohnehin darauf, die Wissenschaftler in ihrer Arbeit zu unterstützen, anstatt sie zu ersetzen. Schließlich ist diese besondere Form der Übersetzungsarbeit hochkomplex. Sie erfordert nicht nur Sprachkenntnisse, sondern auch vielseitiges historisches und kulturelles Wissen. Um ihren Job fürchten müssen Assyriologen daher also nicht.