Mehr Understatement geht wohl kaum. Gerade einmal vier Buchstaben lang ist der Titel des Romans von Joshua Cohen. Witz lautet er, und das sowohl im englischen Original wie auch in der deutschen Übersetzung. Dafür wird der Leser auf eine mehr als 900 Seiten lange und leicht surreale Reise durch die jüdische Geschichte – oder je nach Perspektive auch Gegenwart oder Zukunft – mitgenommen, die es in sich hat.
Aber der Reihe nach: Die Geschichte beginnt kurz vor der Jahrtausendwende, genauer gesagt in der Weihnachtzeit des Jahres 1999. Von heute auf morgen sterben weltweit alle Juden an einer mysteriösen Seuche. Einzige Ausnahme sind die männlichen Erstgeborenen. Die zehnte Plage aus dem 2. Buch Mose lässt grüßen – nur unter umgekehrten Vorzeichen.
quarantäne Und die Überlebenden dieser fast vollständigen Vernichtung werden erst einmal unter Quarantäne gestellt, und zwar ausgerechnet auf Ellis Island, jenem Eingangstor zur »Goldenen Medine« wie die Vereinigten Staaten als Sehnsuchtsort für aus Europa fliehende Juden auch hieß, wo entschieden wurde, wer hineindurfte und wer außen vor blieb. Aber spätestens zu Pessach sind auch sie alle tot.
Der Held kommt mit Bart und Brille zur Welt und wird zum Messias hochgejazzt.
Der Einzige, der von dieser Plage ausgenommen wird, ist Benjamin Israelien, der erste Sohn nach zwölf Töchtern von Israel und Hanna Israelien. Er selbst wurde nur wenige Tage vor dem Weihnachten, das alles verändern sollte, im Anschluss an ein Schabbatessen geboren. Auch unterscheidet sich der Säugling bereits sehr von anderen, egal ob jüdisch oder nichtjüdisch. So kommt Benjamin direkt mit Bart und Brille im US-Bundesstaat Joysey zur Welt, seine Vorhaut fällt regelmäßig ab und wächst sofort wieder nach.
Als Letzter seiner Art wird er von der Regierung in Washington quasi zum Messias hochgejazzt, soll die Amerikaner dazu motivieren, jüdische Traditionen anzunehmen, also genau das zu betreiben, was im identitären Jargon der Jetztzeit als »kulturelle Aneignung« regelmäßig skandalisiert wird. Oder anders formuliert: Das Judentum darf nun populär werden, weil die Juden, die zuvor vielleicht nervten oder einfach nur lästig waren, nicht mehr da sind. Vielleicht ist das auch eine Erklärung dafür, warum man das Wort »Jude« in diesem opulenten Werk vergeblich sucht.
Ohne vorherige Vernichtung der Juden wird es keine Akzeptanz des Judentums geben – so könnte eine der vielen Botschaften lauten, die Joshua Cohen bereithält. Aber auch das dürfte viel zu kurz greifen. Denn der Aufbau und die Sprache von Witz machen es den Lesern alles andere als einfach, sich das Buch zu erschließen. Es thematisiert essenzielle Fragen jüdischer Existenz, liefert aber keine Antworten, sondern ergeht sich in unzähligen Anspielungen und historischen wie auch religiösen Bezügen.
CHUZPE Da sind Sätze, die mitunter eine ganze Seite und mehr lang sind, was auf der einen Seite die Gefahr beinhaltet, dass man sich darin verliert, weil sie ohne Ziel munter vor sich hin mäandern und der Autor die Geschichte, deren Plot ohnehin schwer zu greifen ist, sehr assoziativ vorantreibt. Andererseits liegt genau darin der Reiz. Die Vielzahl der Deutungsebenen erklärt dann auch den Titel. Witz kann als Scherz oder Joke verstanden werden, als etwas Subversives, das zugleich voller Chuzpe steckt.
Viele Passagen sind in »Jinglish« verfasst. Die Übersetzung des Buchs dauerte über fünf Jahre.
Andererseits finden sich diese vier Buchstaben in vielen aschkenasischen Familiennamen, beispielsweise Rabinowitz oder der in dem Roman erwähnte Komiker Itzkowitz, der sich zu Eddie Cantor umbenannte, um als Jude Karriere machen zu können. Last but not least in Ortsnamen, allen voran einem der finstersten in der jüdischen Geschichte: Auschwitz.
BANN Nicht zuletzt aufgrund dieser Phantasmen-schwangeren Sprache, die mitunter sehr drastisch Körperliches oder Sensorisches zum Ausdruck bringt, um dann wieder einen enzyklopädischen Stil anzunehmen, oder abrupt ins Megalomanische kippt, schlägt einen das Buch in seinen Bann. Kein Wunder, dass in den Kritiken – angefangen von James Joyce über Thomas Pynchon oder David Foster Wallace – so ziemlich alle Größen der nicht ganz einfach zugänglichen Literatur als Vergleiche bemüht werden, um die literarischen Qualitäten von Witz auf den Punkt zu bringen.
2010 bereits erschien das Buch in den Vereinigten Staaten. Dass es erst jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt, hat gute Gründe. Denn viele Passagen von Witz sind in »Jinglish« verfasst, jenem amerikanischen Englisch, das vor Begriffen aus dem Jiddischen strotzt oder eigene Hybride hervorgebracht hat. Außerdem zerlegte Joshua Cohen mitunter die Syntax, benutzte Worte, die aufgrund ihres Klangs eine Wirkung erzielen sollten, oder verzichtete mal ganz auf Substantive oder Verben im Satz. All das zu übersetzen, vor dieser Mammut-Aufgabe stand Ulrich Blumenbach.
Mehr als fünf Jahre hat er dafür gebraucht. Begriffe wie »Nabelschnurgeradeausweglosigkeit« zu kreieren, war nur eine von vielen Herausforderungen. Allein deshalb lohnt sich schon die Lektüre dieses verwirrenden, dystopischen Romans.
Joshua Cohen: »Witz«. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Schöffling, Frankfurt am Main 2022, 912 S., 38 €