Justiz

In der Grauzone

Der Eichmann-Prozess in Jerusalem Foto: imago/ZUMA/Keystone

Der Eichmann-Prozess in Jerusalem war das wohl spektakulärste Verfahren der israelischen Justizgeschichte. Möglich wurde er auf Grundlage eines am 1. August 1950 von der Knesset erlassenen »Gesetzes zur Bestrafung von Nazis und ihren Helfern«.

Dieses sollte Verbrechen gegen das jüdische Volk, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Kriegsverbrechen ahnden, die während der NS-Zeit in den von Deutschland besetzten Gebieten verübt worden waren.

Kapos Doch das Gesetz wurde nicht allein deshalb beschlossen, weil man SS-Männer oder ukrainische KZ-Wachmannschaften zur Rechenschaft ziehen wollte. Vielmehr ging es um den gesellschaftlichen Frieden in Israel selbst. Denn unter den Hunderttausenden Einwanderern, die nach 1948 kamen, befanden sich auch Personen, die mit den Nazis zusammengearbeitet hatten, als Aufseher in den Arbeits- und Vernichtungslagern, kurz Kapos.

Das führte zu heftigen, teils sehr emotionalen Debatten. Über 40 dieser Kapos wurde in Israel der Prozess gemacht. »Israelische Staatsanwälte erhoben Anklage gegen sie, weil sie mit den Nazis kollaboriert hatten, um Juden anzugreifen und ihnen schweren Schaden zuzufügen«, beschreibt der Historiker Dan Porat die Motive hinter diesen Verfahren, die heute weitgehend aus dem israelischen Bewusstsein verdrängt sind. »Sie wurden beschuldigt, andere erpresst und Juden den Nazis ausgeliefert zu haben.«

Studie Für seine Studie über die Kapo-Prozesse konnte der Historiker nun auf Akten zurückgreifen, die man bis dato fast alle unter Verschluss hielt.
Auslöser für die Verfahren waren oft Zufallsbegegnungen zwischen Überlebenden und ihren ehemaligen Peinigern in Israel. So wie im Juli 1949 in Ein Kerem, als eine Gruppe Soldaten an einem Kiosk haltmachte.

Oberfeldwebel Yerachmiel Yanovsky erkannte in dem einäugigen Besitzer den »Blinden Max«, einen ehemaligen Blockältesten des KZs Jaworzno, einem Nebenlager von Auschwitz, der ihn und andere Häftlinge mehrfach misshandelt hatte.

Zu diesem Zeitpunkt gab es das Gesetz aber noch nicht, weshalb Polizeichef Yaron Lustig nach einem Verhör des Beschuldigten erklärte, dass man »keine Person in Israel für Verbrechen belangen kann, die außerhalb des Staatsgebietes geschehen waren«. Zuständig seien in diesem Fall allein die polnischen Behörden. Doch die Fälle häuften sich. »In den vergangenen zwei Jahren gab es einige Dutzend, vielleicht sogar Hunderte solcher Begegnungen«, schrieb die Tageszeitung »Maariv« und beklagte das Fehlen entsprechender Gesetze.

Probleme Das sollte sich 1950 ändern. Bis 1972 gab es Prozesse gegen Kapos, wobei Porat aufgrund der moralischen und rechtlichen Probleme, die sich dabei auftaten, mehrere Phasen im Umgang mit dem Thema beobachtet. So waren die ersten zwei Jahre vor allem durch eine kompromisslose Haltung gekennzeichnet.

»Wie die Gesetzgeber betrachteten auch die Ermittlungsbehörden jeden, der unter den Nazis eine Position innehatte, so lange als schuldig, bis das Gegenteil erwiesen war.« Sechs Kollaborateure wurden in diesem Zeitraum zu durchschnittlich fünf Jahren Gefängnis verurteilt, ein weiterer, Yehezkel Jungster, sogar zum Tode – nur wurde das Urteil nie vollstreckt. Denn das Oberste Gericht hatte beschlossen, dass nur Nazis für Kriegsverbrechen und damit zum Tode verurteilt werden könnten, nicht aber ihre jüdischen Handlanger.

Für Juden, die in Palästina aufgewachsen waren, standen Unabhängigkeit und Verteidigungsbereitschaft ganz oben auf der Werteskala, weshalb für sie Kollaborateure die übelsten Eigenschaften der von ihnen verachteten Diaspora verkörperten: Furcht, Unterwürfigkeit und grenzenloser Egoismus. Parallel dazu dominierte eine generell negative Haltung gegenüber den Überlebenden der Schoa.

Vehemenz Doch den Juden Palästinas hatten in den Jahren des Zweiten Weltkriegs schlichtweg die Mittel gefehlt, in Europa zu intervenieren, weshalb es zugleich ein weit verbreitetes Gefühl der Macht- und Hilflosigkeit gab. Darin sieht Porat einen der Gründe, warum man in den 50er-Jahren mit dieser Vehemenz gegen Kapos vorging.

»Sie vor Gericht zu bringen, gab vielen die Möglichkeit, sich an den Verfolgern des jüdischen Volkes zu rächen.« Und so betrachtete man Kapos oder auch Judenrat-Mitglieder quasi als Nazis. Elsa Trenk, eine jüdische Aufseherin, die in Auschwitz weibliche Häftlinge geschlagen hatte, wurde 1950 sogar des Völkermords angeklagt.

Laut Porat trug der Eichmann-Prozess schließlich dazu bei, »jeden Bericht zum Schweigen zu bringen, der moralische Zweifel am Verhalten eines jeden Juden während des Holocaust aufkommen lässt«. Generalanwalt Gideon Hausner hatte in seinem Eröffnungsstatement betont: »Wir werden uns nicht mit Juden befassen, die Befehle ausgeführt haben«, weil sie Opfer waren, die unter Zwang handelten.

Irgendwann hatte sich auch unter den Richtern die Erkenntnis durchgesetzt, dass es die Deutschen waren, die die Rahmenbedingungen für das geschaffen hatten, was in Israel zur Verhandlung stand. Auch könne niemand, der nicht selbst durch die Hölle der Schoa gegangen war, mit Gewissheit sagen, ob er anders gehandelt hätte. Welche moralischen Fragen dabei zur Sprache kamen und wie die israelischen Verantwortlichen darauf reagierten, darüber berichtet Porat in seiner eindrucksvollen Schilderung der vielen Verfahren.

Dan Porat: »Bitter Reckoning – Israel Tries Holocaust Survivors As Nazi Collaborators«. The Belknap Press, Cambridge 2019, 276 S., 26,32 €

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