Debatte

In der Berlin-Blase

Rückständig, ausgrenzend und fixiert auf den Holocaust: In markigen Worten hat die junge Autorin Rina Soloveitchik in ihrem Essay »Es wird nie gut sein, aber ...« auf Zeit Online das Selbstverständnis der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland kritisiert. Junge Juden könnten sich »jüdisches Leben über die Schoa und Antisemitismus hinaus kaum vorstellen«, so ihre These. »Dieses trostlose Selbstverständnis« würde unreflektiert von der älteren Generation übernommen. Folglich besäße das deutsche Judentum heute weder Inhalt noch Relevanz für Fragen der Gegenwart.

Zugleich erhebt sie den Minjan der Synagoge Fraenkelufer in Berlin-Kreuzberg zum Vorbild für die jüdische Gemeinschaft zwischen Konstanz und Kiel. »In Berlin«, schwärmt Soloveitchik, »kann man am Freitagabend auf eine Schabbatfeier geraten, bei der sich feministische, homosexuelle, queere Juden treffen und in fünf Sprachen über die Zumutung debattieren, dass Schwule und Lesben in deutschen Synagogen nicht heiraten dürfen.«

fokus Nun, Soloveitchik mag an manchen Stellen recht haben; ihr Vorwurf gegenüber der jungen Generation hält einer genaueren Prüfung nicht stand. Junge Juden übernehmen zunehmend Verantwortung und besetzen entscheidende Positionen in den Gemeinden und Institutionen.

Sie tun dies mitnichten, um eine Leidens- und Erinnerungskultur aufrechtzuerhalten, sondern in allererster Linie, um ein neues Selbstverständnis als deutsche Juden im 21. Jahrhundert zu formen. Darin nimmt der Holocaust einen Platz, aber sicherlich kein Alleinstellungsmerkmal ein. Der Fokus liegt ganz selbstverständlich auf den Fragen, die Juden heute beschäftigen.

Der sich anbahnende Wandel im deutsch-jüdischen Selbstverständnis ist ein komplexer Prozess und kann nicht einfach herbeigewünscht werden. Phasen des Fortschritts und Rückschläge werden sich abwechseln und tun dies bereits. Aber die Richtung ist klar und wird es bleiben, solange Juden volle Rechte genießen. Noch etwas verhindert einen voreiligen Drang zu einer gewissen Form der Normalisierung: den letzten Überlebenden noch die Ehre zu erweisen, bevor wir ihnen die letzte Ehre erweisen, gebietet mehr als nur der Anstand.

Filterbubble Berlin aber hat bekanntlich wenig Anstand, dafür aber eine große Filterblase, in der sich die Menschen in ihren Einstellungen und Meinungen weitgehend selbst bestätigen, sich gleichzeitig aber von Informationen, die nicht ihrem eigenen Standpunkt entsprechen, isolieren. Beides trifft teilweise leider auch auf das jüdische Leben dort zu. Und offenbar auch auf die Wahrnehmung Soloveitchiks, die sich besorgt zeigt über die fehlende Identifizierung von nach Berlin gezogenen Juden mit der dortigen Gemeinde. Sie meint, dieser Rückzug sei ein Beleg dafür, dass die existierende Gemeindestruktur ausgedient hat.

Zunächst einmal: Schabbatfeiern in Privatwohnungen? Tfilla à la Carlebach? Schon im Berlin der Nachwendezeit war das hip. Diskussionen darüber, welche Mizwot zeitgemäß sind und wohin der nächste Schritt jahrtausendlanger Evolution jüdischer Werte gehen soll? No news. Recht indes hat die Autorin in folgendem Punkt: Durch die inzwischen auch in der breiten Öffentlichkeit diskutierten Streitigkeiten innerhalb der Jüdischen Gemeinde zu Berlin wird die Bindung an die dortige Einheitsgemeinde tatsächlich beschädigt. Aber Soloveitchiks Urteil, das deutsche Judentum sei »uniform, konservativ und auf Formalitäten fixiert«, lässt sich eben auch nur vor dem Hintergrund von Berliner Meschugge-Partys und anderer jüdischer Spezialitäten der Hauptstadt aufrechterhalten.

Ruhrbarone Richard Volkmann schreibt dazu im Blog Ruhrbarone: »Wer sich in Gemeinden wie Konstanz, Frankfurt (Oder), Neustadt an der Weinstraße oder Pinneberg umhört, der wird nur wenige Klagen über den verkrusteten Ritus hören. In solchen Gemeinden ist man zumeist schon froh, wenn externe Finanzierungen die Aufrechterhaltung regelmäßiger Religions- und Hebräischstunden für die wenigen jüdischen Kinder am Ort ermöglichen und alle paar Wochen überhaupt mal ein Rabbiner vorbeikommt.«

Dass eine orthodoxe Auslegung des Judentums auch unter der Mehrheit von nichtorthodoxen Juden in Deutschland bevorzugt wird, ist unstrittig, leicht schizophren, mag den ein oder anderen befremden, die historischen Gründe hierfür aber sind hinlänglich bekannt. Mit dem fortschreitenden Wandel des jüdischen Selbstverständnisses in Deutschland wird jedoch auch dies sich ändern. Und in den Großstädten wird sich die bereits existierende religiöse Vielfalt weiter entwickeln und festigen.

Zurück zum Ausgangspunkt: dem Selbstverständnis junger Juden. Die Aktivitäten der verschiedenen jüdischen Jugendorganisationen in Deutschland sind keine Trauerfeiern, die Studentenverbände keine Trauergemeinschaften. (Letztere müssen sich ganz anderer Kritik stellen: zu viel Hedonismus, zu wenig Engagement gegen gefährliche politische Tendenzen.) Man denke auch an die Jugendarbeit der Makkabi-Vereine. Und überhaupt: Der Kulturkongress Tarbut debattiert aktuelle jüdische Fragen auf höchstem Niveau, die Kulturabteilungen der Gemeinden und des Zentralrats sowie die Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg greifen Alltagsfragen auf.

Auf der Website von Limmud, von Soloveitchik als positives Beispiel angeführt, wird im Übrigen der Zentralrat als Unterstützer genannt – an erster Stelle. Bundesweit erhalten jüdische Grassroots-Projekte Unterstützung aus den etablierten Strukturen, finanziell, logistisch und organisatorisch. Diese Unterstützung für ein pluralistisches, dynamisches und zukunftsorientiertes jüdisches Leben wird weiter zunehmen. Auch das institutionalisierte Judentum widmet sich zunehmend gesamtgesellschaftlichen Aufgaben. Der Wandel vollzieht sich, und dabei ist Berlin nur ein Schauplatz – die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist eben auch föderal strukturiert.

Image Es bleibt allerdings festzuhalten, dass Soloveitchik einen wichtigen Hinweis liefert, der im Zuge des Wandels jüdischen Selbstverständnisses in Deutschland nicht vernachlässigt werden darf. Richtigerweise schreibt sie, dass die Mehrheit in Deutschland Judentum mit Opfer, Verfolgung und Schoa verbindet. Man kann sich ein besseres Image vorstellen, von Israel ganz zu schweigen. Für die jüdische Gemeinschaft ist es deshalb von zentraler Bedeutung, dass wir beim Wandel auch bedenken, welche Außensicht auf uns wir denn gerne hätten.

Die Chiffre »Judentum« muss mit positiven Eigenschaften gefüllt werden. Da stehen einige zur Auswahl: die zivilisatorischen Errungenschaften des Judentums, die Beiträge von Juden zu Wissenschaft, Gesellschaft und vielen anderen Bereichen sowie die Leistungen des jüdischen Staates. Wenn wir es dann noch schaffen, diese Inhalte zu kommunizieren und zu verkörpern, dann wird sich auch die Sicht der anderen auf uns positiv ändern.

Der Autor wurde 1981 geboren, organisierte die Europäischen Makkabi-Spiele in Berlin und lebt als Politikberater in München.

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