Der Auftakt zu sein, ist nie einfach. Den Anfang zu machen, genauso wenig. Im Winter 2022/23 lancierten das Literaturhaus Hannover, das weit über die von Externen bespöttelte niedersächsische Stadt ausstrahlt (legendär die Sottise des Feuilletonchefs der Hamburger Wochenzeitung »Die Zeit«, Fritz J. Raddatz, der schönste Platz in der niedersächsischen Landeshauptstadt sei der Flugplatz), und die dortige Universität eine Poetikdozentur, die die »Realitäten einer postmigrantischen Literatur« adressieren soll. Da kann man schon ins Stocken kommen.
So gerät denn auch der Auftaktsatz der in Leningrad geborenen Lena Gorelik, die 1992 mit ihren jüdischen Eltern nach Deutschland kam und dann in München, wo sie heute lebt, sowie in Jerusalem studierte, stockend: »Ich schreibe, irgendwie, manchmal, jetzt, immer voller Zweifel.«
Das literarische Werk Lena Goreliks von ihrem Debüt Meine weißen Nächte (2004) bis zu Wer wir sind, das 2021 erschien, ist weitgespannt. Es reicht von Romanen, Essays, von Texten fürs Theater bis zu Jugendliteratur. Es schließt auch Herausgeberschaften ein, jüngst von Trotzdem sprechen, und Übersetzungen, etwa Lena Muchinas Leningrader Tagebuch von 1941/42, sowie das Kuratieren des ersten Jahrgangs des Literaturfestivals Stuttgart, an dem einige Autorinnen teilnahmen, die auch in der Vorlesung namentlich erwähnt werden.
Mit vielen Preisen ist sie ausgezeichnet worden, jüngst in Ingolstadt mit dem Marieluise-Fleißer-Preis. Die Laudatorin war Tanja Graf, Leiterin des Münchner Literaturhauses, die Lena Gorelik einst (als Verlegerin von SchirmerGraf) erst entdeckte.
Poetik-Vorlesungen sind seit mehr als 60 Jahren institutionell verankert. In Frankfurt am Main gibt es sie seit 1959, einsetzend mit Ingeborg Bachmann und Marie Luise Kaschnitz. Der Anspruch dort? Hoch, ja extrem hoch. »Probleme zeitgenössischer Dichtung« wurden dort debattiert, die Prosa des Absurden seziert, die Ästhetik des Humanen umkreist, über Literatur als Therapie räsoniert oder über die Arbeit mit Mythen.
Gorelik ist ganz anders, ist alles andere als akademisch. Denn sie stockt anfangs. Und stockt weiter. Doch im aufgeschlossenen, klugen Sinn. Kein Blick in die »Werkstatt« – vielmehr: ein ausgesprochen sympathischer Einblick in alle Zweifel. Jedes Wort schreiben ist von Neuem mit Skrupeln belastet. Das Schreiben selbst? Ist »eine Suche, ziemlich genau, wie wenn man Pilze sucht«.
Pyjama und Post-it-Zettel
Von immer wieder neuen Anläufen spricht sie, von »Seitenfetzen« wie von bei Paul Celan entlehnten Mottos, die dann in der nächsten Manuskriptstufe umgehend im Papierkorb verschwinden, vom Pyjama, in dem sie am liebsten schreibt, von kleinen Post-it-Zetteln, auf denen sie sich Notizen macht, von den Legosteinen der Kinder, die sie bei einem Schreibstau einmal nach Farben ordnete, sehr zum Verdruss des Nachwuchses. Und dann blitzt zwischen vielen Details ein Signalsatz auf: »Ich muss mich schreiben, um uns zu schreiben, damit wir eingeschrieben werden ins Wir.«
Ergänzt wird Goreliks Vorlesung durch einen Aufsatz Kathrin Dittmers, die das Literaturhaus Hannover leitet und mehreren Literaturjurys vorsteht, über Wesen, Sendung und Aufgaben eines Literaturhauses. Hinzugefügt sind auch ein längerer Essay von Matthias N. Lorenz, Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Hannover, über eine »Poetik-Dozentur für eine Gesellschaft der Vielen« sowie ein längeres instruktives, mündlich geführtes »Werkgespräch« zwischen Lena Gorelik und Saskia Fischer, Germanistin an der Universität Hannover.
Hier kommt manches nochmals, auch schärfer, gesellschaftspolitisch fokussierter, zur Sprache. Und steht dabei doch, unsichtbar, unter dem Motto des russischen Dichters Bulat Okudschawa, das Lena Gorelik ihrem Buch Wer wir sind voransetzte: »versuch nicht, zu gefallen dabei.« Wenig später kontert sie es mit einem eigenen Satz: »Ich kann nicht so tun, als würde ich nur erzählen.«
Lena Gorelik: »Ich schreibe, weil ich, glaube ich, bin«. Verbrecher Verlag, Berlin 2024, 112 S., 19 €