Die nur scheinbar unwissende Frage »Warum ist diese Nacht anders als alle anderen?« aus dem Mund des jüngsten Familienmitglieds markiert traditionell einen der Höhepunkte des Sederabends an Pessach. Sie verleiht diesem Gaumen und Kondition so herausfordernden wie anregenden Fest all den erwartungsfrohen Glanz, den die glückliche Erinnerung an das Ende der Sklaverei verdient.
Für den alten Salomon, die Hauptfigur von Joachim Schnerfs Roman Wir waren eine wunderbare Erfindung, handelt es sich jedoch um eine bange, düstere Frage: Der erste Sederabend ohne seine geliebte Sarah steht vor der Tür. Nach dem Tod seiner Frau, die es als Einzige vermochte, die Familie zusammenzuhalten, ist es nun an ihm, den Seder durch seine vorhersehbaren Kollisionen und Katastrophen zu manövrieren.
festtag Die beiden Töchter sind seit Jahren zerstritten und setzen sich nur noch zu diesem Festtag an einen gemeinsamen Tisch. Ihre Männer – ein aschkenasischer Neurotiker mit schwacher Verdauung und ein sefardischer Lebemann mit Drang zum Sprücheklopfen – sowie die Palästina-solidarische Enkelin helfen auch nicht, die Zentrifugalkräfte zu mindern. Der Eklat, Produkt eingeschliffener innerfamiliärer Rollenmuster, nicht verziehener Kränkungen und kultivierter Vorurteile, steht sicher ins Haus.
Der alte Salomon drangsaliert die Runde mit schwarzen Witzen.
Schnerf lässt uns an Salomons mosaiksteinartigen Rückblicken auf vergangene Sederdramen und an seinen Vorahnungen auf den nahenden Abend teilhaben. Indem er seine tragikomische Geschichte vollständig in den fragmentierten Gedankenwelten seines Protagonisten spielen lässt, verlangt er dem Leser etwas an eigener Regieleistung ab.
Umso eindringlicher und tiefer gerät dafür die Schilderung von Salomons Ängsten, die Erinnerung an seine Frau zu verlieren oder sie korrumpieren zu lassen und nicht genug Stärke aufzubringen, die familiäre Pessach-Tradition fortzuführen.
Denn Salomon spielte bislang bei Tisch selbst die Rolle des Querulanten, der von Sarah mit sanfter Bestimmtheit immer wieder in den festlichen Ablauf zurückgeleitet wurde: Fast zwanghaft und bis zur Grenze der Boshaftigkeit drangsaliert Salomon, der das Konzentrationslager Auschwitz überlebte, die Runde mit seinen schwarzen »KZ-Witzen«: »Wisst ihr, was in Sobibor am Eingang der Gaskammern stand? ›Achtung Stufe‹«.
Sie sind seine einzige Form des Umgangs mit der Sprachlosigkeit über das Durchlittene. Indem Schnerf zeigt, dass die »von den Nazis geschlagene Gedächtniswunde immer noch infiziert« ist und vor »Sarkasmen wimmelt«, mit denen er die Familie einerseits an sich heranzieht und im gleichen Zuge wieder abstößt, zeichnet er ein feinfühliges Porträt der tiefen Einsamkeit der Überlebenden.
Einer Einsamkeit, der er trotz aller Mühe und Zuwendung auch im Kreis seiner Familie ausgesetzt bleiben muss, und zu der jetzt auch noch diejenige als Witwer tritt, womit das fragile Überlebensarrangement vollends zu kollabieren droht.
haggada Noch bemerkenswerter ist diese empfindsame Familienerzählung deshalb, weil sich der formale Ablauf streng an der Dramaturgie der Haggada orientiert: Am Anfang verbrennen wir mit Salomon Chametz, auf den letzten Seiten verklingt »Chad gadja«, das »Lied vom Lämmchen«.
Der Leitfaden für den Seder liefert quasi die Matrize des Buches, was in dem Titel des französischen Originals Cette Nuit (Diese Nacht) bereits unterstrichen wird, während die deutsche Version den Akzent auf die Liebesbeziehung zwischen Salomon und Sarah legt.
Schnerf zeigt die jüdische Welt ohne Exotik und Stereotypen.
Etwas schade, denn ein so im wahrsten Sinne jüdisches Buch hat man lange nicht gesehen: Nicht etwa, weil der Autor, die Protagonisten oder die Geschichte jüdisch wären, daran mangelt es bekanntlich nicht.
Doch indem der gesamte beschriebene Lebens- und vor allem Problemkosmos (bis auf eine etwas unmotiviert hineinmontierte deutsche Austauschschülerin) im familiären Rahmen verbleibt und sich die Angehörigen mit all ihren Beschädigungen ineinander verbeißen, gelingt Schnerf die Darstellung eines Intimitätsraumes, in dem das Jüdische alle Exotik und Stereotypie abgestreift, die ihm so häufig angeklebt werden.
pessach Umso bedauerlicher ist, dass die deutsche Übersetzung immer wieder von »Osterabenden« oder »österlichen Liedern« spricht, wo im Französischen von »Pâques« die Rede ist. Letzteres bedeutet zwar auch »Ostern«, verweist aber im Gegensatz zum deutschen Wort durch seine etymologische Herkunft zunächst auf »Pessach« und ist daher auch für das jüdische Fest in Gebrauch.
Dies tut der Fulminanz jedoch keinen Abbruch, mit der Schnerf es versteht, in kleinen Beobachtungen und Szenen zu kondensieren, worüber man religionswissenschaftliche, erinnerungshistoriografische oder traumapsychologische Doktorarbeiten schreiben könnte. Wir waren eine wunderbare Erfindung ist ein Roman wie Lattich und Charosset, der nicht zuletzt die Frage stellt, wie uns die Poesie der Tradition dabei helfen kann, trotz allen Leidens weiterzubestehen.
Joachim Schnerf: »Wir waren eine gute Erfindung«. Roman. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Antje Kunstmann, München 2019, 144 S., 18 €