Frau Westheimer, lassen Sie uns über Sex sprechen.
Gern, über Sex zu reden, ist immer gut.
Ihr neues Buch heißt »Mythen der Liebe«. Was ist Ihrer Erfahrung nach der größte Mythos?
Viel zu viele Paare haben die Vorstellung, es müsse im Bett jedes Mal so klappen, bis beide Sterne sehen. Das ist nicht realistisch. Damit es im Bett funktioniert, sollte zuallererst die zwischenmenschliche Beziehung stimmen. Mann und Frau müssen sich gerne haben und gut verstehen.
Guter Sex kommt automatisch mit dem richtigen Partner?
Nein, das allein reicht nicht. Auch mit dem geliebten Partner muss gemeinsam am Sex gearbeitet werden – aber bitte immer mit Humor! Wenn man die ganze Zeit analysiert, ob sie ihn jetzt richtig gestreichelt hat oder nicht, vergeht die Lust.
Worauf sollte man noch achten?
Männer sollten wissen, dass Frauen länger brauchen, um erregt zu sein und zum Höhepunkt zu kommen. Viele Männer denken stattdessen, eine Frau müsse wie in Hollywoodfilmen spätestens nach fünf Minuten einen Orgasmus haben.
Hat Harald Schmidt also recht, wenn er sagt: »Für viele Männer ist Autofahren wie Sex. Die Frau sitzt teilnahmslos daneben und ruft immer: ›Nicht so schnell, nicht so schnell!‹«
(lacht) Allzu oft ist das leider wahr. Sobald Paare aber wissen, dass ihre Erregungskurve nicht synchron verläuft, kann man das Problem behandeln. Ich sage meinen männlichen Patienten immer: Wenn Sie vor Ihrer Partnerin einen Orgasmus haben, können Sie sie auch mit der Hand oder mit der Zunge befriedigen – oder, Stichwort Humor, sogar mit der großen Zehe.
Haben sich die Probleme Ihrer Patienten eigentlich im Laufe der Jahrzehnte geändert?
Die zwischenmenschlichen Probleme sind nach wie vor dieselben, zum Beispiel sexuelle Langeweile bei lang verheirateten Paaren. Was sich allerdings verändert hat, ist der Umgang mit der Sexualität. Früher stellten mir Patientinnen nur sehr zaghaft und voller Scham Fragen zum Thema Oralsex, heute ist die Fellatio im Mainstream angekommen.
Sind wir aufgeklärter als die Generationen vor uns?
Unbedingt! Früher hat man viel mehr herumgeredet. Diese Verklemmtheit gibt es glücklicherweise nicht mehr – ein riesengroßer Fortschritt.
Inwiefern?
Ein Beispiel: Im Vergleich zu früher gibt es weniger Frauen, die nicht zum Orgasmus kommen. Sie trauen sich inzwischen, ihren Partner wissen zu lassen, was sie erregt. Deswegen sage ich immer: Raus aus eurem Schildkrötenpanzer! Wer guten Sex will, muss auch etwas riskieren. Aber Vorsicht: Wenn eine Frau beim Geschlechtsverkehr mit ihrem Partner an Sex mit einem Fußballteam denkt, sollte sie den Mund halten.
Sie haben als eine der Ersten ungeniert über das Thema in den US-Medien gesprochen. Sind die Amerikaner doch nicht so prüde, wie man gemeinhin annimmt?
Ich habe in dieser Hinsicht großes Glück gehabt. Selbst die Orthodoxen haben sich nie über mich beschwert, auch nicht, als ich Homosexualität thematisierte. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass ich verschiedene akademische Grade habe und an seriösen Universitäten wie Princeton unterrichte.
Eines Ihrer erfolgreichsten Bücher heißt »Himmlische Lust. Liebe und Sex in der jüdischen Kultur«. Was sagt das Judentum zur Sexualität?
In der jüdischen Tradition war Sex nie eine Sünde, sondern etwas, das ein verheiratetes Paar jeden Freitagabend tun sollte. Sex zwischen Eheleuten ist also gewissermaßen von höchster Instanz genehmigt; der deutsche Titel meines Buches sagt alles: Im Judentum ist Sex etwas Himmlisches.
Haben jüdische Paare andere Probleme als nichtjüdische?
Nein, Probleme wie frühzeitigen Samenerguss oder Orgasmusschwierigkeiten betreffen alle Menschen – egal, ob Jude, Muslim oder Christ.
In »Himmlische Lust« zitieren Sie den jiddischen Spruch »Wenn der Schmock stejt«. Was bedeutet das genau?
Das ist ein sehr gescheiter Satz unserer Weisen, der den Umstand beschreibt, dass der Verstand aus dem Kopf eines Mannes fliegt, wenn er eine Erektion hat. Bei Frauen ist es übrigens nicht anders, auch ihr Verstand fliegt aus dem Kopf, wenn sie erregt ist.
Täuscht der Eindruck oder waren viele maßgebliche Sexualtherapeuten Juden?
Das werde ich komischerweise immer gefragt, dabei waren die wichtigsten Forscher auf diesem Gebiet nichtjüdisch. Dr. Ruth ist eine Ausnahme (lacht).
Sie sind mit 17 Jahren nach Palästina gegangen und haben als Scharfschützin im Israelischen Unabhängigkeitskrieg gekämpft. Wie ist heute Ihre Beziehung zu Israel?
Ich bereise das Land jedes Jahr, drehe dort Dokumentarfilme und hätte nie gedacht, dass ich irgendwann einmal in meinem Leben nicht in Israel leben würde. Ich bin Zionistin, aber mein bewegtes Leben hat mich nun einmal nach New York gebracht.
Sie mussten vor 70 Jahren vor den Nazis aus Deutschland fliehen, Ihre Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Wie ist Ihr Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen heute?
Ich besuche jedes Jahr anlässlich der Buchmesse meine Heimat Frankfurt am Main und habe keine Probleme mit Deutschen, die jünger sind als ich. Gespräche mit Leuten, die älter sind als ich vermeide ich jedoch, weil ich nicht hören möchte, dass man damals von allem nichts gewusst hätte.
War es eine bewusste Entscheidung, dass Sie vor ein paar Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft wieder angenommen haben?
Dieser Schritt war schwierig für mich, nach all dem, was damals geschehen ist. Letztlich habe ich das für meine Kinder und Enkelkinder getan, weil ich wusste, dass das wichtig für sie sein kann, wenn sie irgendwann einmal in Europa studieren oder arbeiten möchten.
Haben Sie noch Erinnerungen an Ihre Kindheit in Deutschland?
Sehr viele sogar! Zum Beispiel erinnere ich mich, als sei es gestern, an die Kinderlieder »Hänschen klein« und »Kommt ein Vogel geflogen«. Wenn jemand wie ich mit zehneinhalb Jahren gezwungen wird, erwachsen zu werden, muss er sich an die Kindheit sehr gut erinnern, damit sie nicht verloren geht.
Woher nehmen Sie nach all dem, was Sie erlebt haben, Ihren so stark ausgeprägten Lebensmut?
Vieles kommt von meiner Großmutter, die sehr religiös war und mich stark beeinflusst hat. Auch wenn traurige Sachen passieren, muss man aus diesem einen Leben einfach das Beste machen, auch das ist eine Mizwa.
Vor ein paar Jahren haben Sie in Israel öffentlich bekannt gegeben, dass Sie einen Partner suchen. Hatten Sie Erfolg?
Noch nicht, aber vielleicht klappt es ja dieses Jahr.
Was sollte der betreffende Mann mitbringen?
Er sollte wie ich bereits ein gewisses Alter haben und, ganz wichtig, Witwer sein.
Es ist bekannt, dass Sie nie über Ihr eigenes Sexleben reden, erlauben Sie dennoch zum Abschluss die Frage: Hat Ihr umfassendes sexuelles Wissen Ihr Privatleben, nun ja, verbessert?
(lacht) Das hat es durchaus. Punkt.
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Ruth K. Westheimer, am 4. Juni 1928 als Ruth Siegel in Frankfurt am Main geboren, musste im Alter von zehn Jahren aus Deutschland fliehen. Ihre Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Sie ging 1945 nach Palästina, wo sie beim Militär eine Scharfschützenausbildung absolvierte und im israelischen Unabhängigkeitskrieg kämpfte. Nach einem Studium der Psychologie an der Sorbonne in Paris wanderte sie 1956 in die USA aus, studierte dort Soziologie und Sexualwissenschaft und arbeitete im Anschluss als Therapeutin. 1980 startete ihre Radiosendung »Sexually Speaking«, in der sie Anrufern humorvoll, offen und unverklemmt Tipps und Ratschläge gab. Die Sendung wurde ein Riesenerfolg, es folgten zahlreiche weitere Radio- und Fernsehauftritte sowie Bücher. Ruth Westheimer wurde zu einer international bekannten und populären Sexberaterin. Noch heute unterrichtet sie in Harvard und Yale. Ihr aktuelles Buch »Mythen der Liebe« ist im Verlag Collection Rolf Heyne erschienen und kostet 19,90 €.