Schon bei der Umbenennung der Wilhelm-Külz-Straße in Salomon-Weinreb-Straße damals nach der Wende hat mancher im Dörfchen Warenberg den Stadt- verordneten »vorauseilenden Gehorsam und Anbiederei« unterstellt. Als sich jetzt eine jüdische Erbengemeinschaft meldet und ihre Ansprüche geltend macht, befindet sich der ganze Ort in Aufruhr. Die Hälfte der Grundstücke soll zurückübertragen werden. Warum eigentlich zurück? Wäre besagter Salomon Weinreb mit Familie wirklich im KZ ums Leben gekommen, würden heute doch wohl keine Erben mehr existieren, die Anspruch erheben könnten.
ironie Nein, politisch korrekt ist nicht alles, was die 1962 im anhaltinischen Köthen geborene Kathrin Gerlof ihren Figuren in den Mund legt. Ihr vierter Roman mit dem mehr als zweideutigen Titel Das ist eine Geschichte ist eine bitterböse Parodie auf die Sorgen und Ängste der »kleinen Leute«. Es geht um historische Schuld und die Frage, wie Menschen damit umgehen – ohne zu moralisieren oder den Zeigefinger zu heben, dafür ironisch –, auch wenn Ironie immer Gefahr läuft, nicht oder falsch verstanden zu werden.
»Die im Nachbarort mit ihren ganzen Wessis, die gekommen waren, um ihre Grundstücke wiederzukriegen, hatten es einfacher. Ein klares schönes Feindbild. Auf den Wessi konnte man immer einschlagen. Das tat keinem weh, das hatte der verdient, und hier im Osten tat er auch so manches dafür, sich richtig unbeliebt zu machen.«
Aber Juden! Ein falsches Wort, und man hat verloren. Wie Hedwig Gottwald. Mit vollem Einsatz kämpfte sie gegen die Restitution, gründete eine Bürgerinitiative. Jetzt zeigen sie mit Fingern auf sie, nennen sie »Antisemitin vom Dienst«. Was die in der DDR sozialisierte Gottwald natürlich von sich weist: »Wir haben nichts gegen Juden, aber wir sind in einem antifaschistischen Staat aufgewachsen und können gar nicht antisemitisch sein. Es geht hier nicht um Geschichte, es geht um Geld.«
perspektivwechsel Kathrin Gerlof arbeitete als Journalistin für diverse Zeitungen, bevor sie sich 1995 selbstständig machte, um Bücher zu schreiben und Kurzfilme über die rechte intellektuelle Elite in Deutschland und über Antisemitismus zu drehen. In ihrem Roman hält sie in sarkastischer Manier dem Leser den Spiegel vor und bedient vermeintlich jedes Vorurteil. Von Kapitel zu Kapitel wechselt die Perspektive, der Fokus liegt jedes Mal auf einem anderen Bewohner der Weinreb-Straße.
Martin Weber ist Lehrer. Schon drei Ordner voll mit Recherchen über die Geschichte seines Hauses und dessen Besitzverhältnisse hat er zusammen, um damit die Restitutionsforderungen zu widerlegen. Ehefrau Martina hat seit der Sache mit dem Haus sogar die Kontrolle über ihren Kontrollzwang verloren. Ist doch auch eine ärgerliche Geschichte, wenn einem jemand buchstäblich »den Boden unter den Füßen« wegziehen will.
Ein Haus weiter wohnt die aus dem Westen zugezogene Unternehmensberaterin Ute Graf mit Ehemann Philipp, einem Sozialarbeiter, der ihr Vorträge hält, dass man eine Verantwortung gegenüber diesen Weinrebs habe. Worauf Ute entgegnet: »Selbst wenn das alles so stimmt, wie die Erben es behaupten, ist es nicht unsere Verantwortung, ihnen Genugtuung für vergangenes Unrecht zu geben.« Wenn schon, solle der Staat dafür aufkommen. Man selbst habe sich schließlich nichts zuschulden kommen lassen.
graben Dann ist da der feiste Lokalredakteur Dieter Drühmer, der seit den Erbstreitigkeiten keine Probleme mehr hat, seine Zeitung zu füllen. Die Anwältin Johanna Wollweber wird durch den Fall mit ihrem Vater konfrontiert, der während des Zweiten Weltkrieges in Triest selbst Juden ermordet hat. »Graben, graben, graben, ohne eine Haltung zu finden. Eigentlich wissen wir alle genug, dachte Johanna Wollweber. Aber was machen wir damit? Das wissen wir nicht, und deshalb machen wir einfach immer weiter.«
Sogar der alte Salomon Weinreb funkt aus dem Grab dazwischen: »Tote reden nicht. Ich weiß.« Doch er müsse sich keinen Reim darauf machen, wie er in die Geschichte komme. Das sei dieser »Schickse« anzulasten, die das Buch geschrieben habe.
Je mehr die Warenberger in ihrer Vergangenheit forschen, desto mehr Unrat fördern sie zutage. Trotzdem kämpfen sie unbeirrt gegen die Weinreb-Erben. Das alles ist kurzweilig erzählt, obwohl man sich ab und an einen Schwenk weniger wünschen würde. Aber Geschichte verläuft eben nicht linear. Und Geschichten tun das nun schon mal gar nicht.
Kathrin Gerlof: »Das ist eine Geschichte«. Roman. Aufbau, Berlin 2014, 398 S., 19,99 €