Kino

Imaginierte Erinnerung

Bilder der Vergangenheit: Stefan Zweig und Joseph Roth Foto: PR

Die familiäre Spurensuche kreist um ein Foto: ein eindrucksvoller alter Mann mit langem weißem Bart. Aufgenommen 1928 an seinem 75. Geburtstag, umringt von über 20 Kindern und Enkelkindern. Ein letztes Mal ist die Familie um Wolf Leib Fränkel zusammen. Ihm und dem kulturellen Leben Wiens des frühen 20. Jahrhunderts widmet sich der Dokumentarfilm Wien vor der Nacht, der zurzeit im Kino zu sehen ist.

Die Anspielung auf Stefan Zweigs Abschiedsbrief, in dem es heißt: »Ich grüße alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht!«, verweist auf das Ende des reichen kulturellen jüdischen Lebens in Wien, das im Film immer präsent ist. Denn er folgt nicht nur Fränkel, sondern blickt immer wieder auf die Beziehung des Filmemachers zu ihm. Eine innere Beziehung ohne reale Begegnungen. Getragen von einer Sehnsucht, die die Verluste der Schoa hervorbringt.

ellis island Wien war nicht die Wunschheimat von Wolf Leib Fränkel. 1853 in einem kleinen polnischen Dorf geboren, landete er, weil ihm auf Ellis Island die Einreise in die USA verwehrt wurde, in Wien. Dort starb er 1929, zwei Jahre vor der Geburt von Robert Bober, seinem Urenkel und dem Regisseur des Films. Bober sucht nicht nur nach Fränkels Spuren, er ist auch bei sich und lässt den Film eigenen Assoziationen folgen: Immer wieder imaginiert er das Kind, das er an der Hand des Urgroßvaters hätte sein können. Immer wieder spricht aus diesem intellektuellen Film eine kindliche Sehnsucht nach dem Urgroßvater, den er nie kennenlernte und dem er sich trotzdem nahe fühlt. Eine Sehnsucht, die sich jenseits eigener Erinnerung frei und assoziativ bewegt.

Bebildert ist die Reise in das Wien vor der Nacht vor allem mit Bildern der Gegenwart, in denen Spuren der Vergangenheit aufleuchten. Bober beschreibt, wie er in den Romanen von Stefan Zweig oder Joseph Roth Beziehungen zu seiner eigenen Geschichte entdeckt und sich die Geschichte seines Urgroßvaters darin zu spiegeln scheint. Dass Wien vor der Nacht spannend ist, liegt weniger an Fränkel, auf dessen Spuren wir uns bewegen, als daran, dass wir Bober auf dieser Suche begleiten dürfen.

Der französische Schriftsteller und Filmemacher wurde 1931 in Berlin geboren. Seine Eltern flohen bereits 1933 nach Frankreich, wo er getrennt von ihnen überlebte. Mit fast 140 Dokumentarfilmen kann er heute, 85-jährig, auf ein beeindruckendes Werk zurückblicken. Sein filmisches wie literarisches Schaffen kreist immer wieder um die Vernichtung und ihre Nachwirkungen, zeigt die Kinder von Deportierten und spürt jüdischer Identität nach.

Zeitgenossen In Wien vor der Nacht folgt er fremden literarischen Erinnerungen und seiner Imagination. Was wir über Schnitzler, Roth und Zweig erfahren, mögen wir schon wissen, stark ist der Film vor allem da, wo er die Autoren als Zeitgenossen des unbekannten Urgroßvaters ins Feld führt und spielerisch Verbindungslinien zwischen ihnen, Fränkel und Bober spinnt. Diese anekdotischen Vorstellungen imaginiert er als kleine Filmszenen und verwebt sie mit Filmgeschichte.

Gern lässt man sich von Robert Bobers ebenso zurückgenommener wie bildhafter Vorstellungskraft ins jüdische Wien zurücktragen. Es ist eine Reise, die als Film erzählt werden musste, gleichzeitig intellektuell und kindlich sehnsüchtig. Wenn Recherche und Imagination verschwimmen, schmälert das nicht den besonderen Eindruck dieser doppelten Reise: in ein vergangenes, jüdisches Wien und in Bobers innere Welt.

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025