Der Frühling kam, ist wieder gegangen, wie ein Gast, der aufbrechen musste. Ich bin aufgewacht, habe, wie jeden Morgen, die Nachrichten gelesen – erste Amtshandlung –, habe mir, wie jeden Morgen, einen Kaffee gemacht, Amtshandlung zwei. Der Himmel war blau, und die wenigen bilderbuchhaften Wolken waren bereits dabei, sich zu verziehen, ein neuer, heißer Sommertag.
Ich schreibe das, nicht, weil ich denke, dass das von Bedeutung sein könnte, meine Morgenroutine, die Farbe des Himmels, die Jahreszeiten, ihre Wechsel – nein, ich schreibe das, um mir selbst vor Augen zu führen: Es ist jetzt Sommer, es war Frühling, und in der Ukraine, gegen die Ukraine wird immer noch Krieg geführt. Jetzt, während ich darauf warte, dass die Kaffeemaschine die Milch in der richtigen Stärke schäumt.
himmel Der Tag, an dem der Krieg begann, als die ersten Panzer durch die Ukraine und über unsere Fernsehbildschirme fuhren, war ein Wintertag. Ich habe mir, so meine ich, alles von diesem Tag gemerkt: den grauen Himmel, dem ich zuschrieb, plötzlich tiefer, drückender über uns zu hängen, und den Winkel, in dem der Fernsehschrank stand, die Stimmen der Reporter, und dass ich keinen Kaffee trank an jenem Morgen, ich sagte, weil ich nicht konnte, aber vielleicht auch aus Prinzip, weil ich mich weigerte, den Alltag Alltag sein zu lassen.
Es ist jetzt Sommer, es war Frühling, und gegen die Ukraine wird noch immer Krieg geführt.
Die Tage danach, wie in Apathie, wie eingefroren, mit Nachrichten rund um die Uhr, auch schlaflos, die Tage, an denen alles sinnlos erschien: zu arbeiten, zu lesen, und dass es so etwas wie Netflix weiterhin gab. Die Gespräche, in denen sich eine Zeile in allen Sprachen wiederholte: »Ich kann nicht glauben, dass …«, und eine Angst, die in unsere Gemütlichkeit raunte: »nuklear«.
Diese langen Tage, wie Tage des Wartens, obwohl niemand wusste, worauf, bevor die Wochen durchgetaktet wurden: Die ersten Geflüchteten aus der Ukraine kamen an, man rannte zum Bahnhof – braucht jemand Hilfe, vielleicht? –, trug sich in Helferinnen-Listen ein, kochte Essen, organisierte Schulplätze für ukrainische Kinder, gab Deutschunterricht, wer konnte, spendete Geld. Es gab unzählige Benefizkonzerte und andere Veranstaltungen, es gab fortwährend etwas zu tun, was Sinn zu machen schien, man war dem tatenlosen Zusehen endlich entronnen. Diese Tage, diese Wochen, in denen der Krieg allgegenwärtig war, an denen er ein Krieg in Europa war, nicht einer in der Ukraine.
moment Der Tag, an dem der Krieg begann, an dem ich mich oder etwas in mir sich weigerte, Kaffee zu trinken, weil die Welt aus den Angeln gehoben worden war, dieser kurze aufblitzende Gedanke: auf dass der Krieg niemals zu einer Selbstverständlichkeit verkommt. Auf dass wir unsere Fernsehgeräte nicht ausschalten, damit wir die Menschen nicht ausschalten, deren Leben, Häuser, Träume, Lieben zerstört werden, während wir Kaffee trinken, an den See radeln, bei Netflix die nächste Serie suchen. Damit wir nicht für einen Moment vergessen, dass wir in einer Welt, in politischen Strukturen, in der Historie verankert sind. Im Winter war der Tag, war der Himmel wirklich grau, oder habe ich ihn mir einfach lieber so gemerkt?
Wenn ich den Live-Blog der Tagesschau zum Krieg gegen die Ukraine öffne, so leuchten mir heute Worte wie »Massiver Beschuss«, »Terror«, »Explosionen«, »Atomkatastrophe« und »Kriegsverbrechen« aus den Überschriften entgegen, aber gestern haben sie das auch schon getan, und die tägliche Wiederholung raubt ihnen die Leuchtkraft ihrer immanenten Bedeutung.
Der Krieg gegen die Ukraine ist in unser Leben eingedrungen, das Brennholz und die Heizlüfter sind ausverkauft, alle Vergleiche mit dem Corona-Run auf das Klopapier bereits zu Witzen verarbeitet worden, die Preise für alles steigen, das Wort »Inflation« wird inflationär, und Scholz und Lindner denken über mögliche Entlastungen für die Bevölkerung nach.
leid Die Folgen des Krieges machen sich in unserer Gemütlichkeit breit, als hätten sie vor zu bleiben, und dennoch ist der Krieg in die Ferne, zurück in die Ukraine gerückt. Als hätten wir Menschen nicht genug Platz in unseren Herzen und Köpfen für die eigenen Sorgen und für das Leid der anderen, jener, die wir nicht persönlich kennen. Als müsste Empathie Platz machen für reale Probleme, für die Frage, wo es noch Brennholz zu kaufen gäbe oder Wassersparduschköpfe, als könne die Empathie nicht verbleiben, auch wenn man auf der Suche nach beidem durch Baumärkte irrt.
Der Krieg ist noch da, und es sieht momentan nicht so aus, als wüsste jemand auf der politischen Bühne, wie er tatsächlich, real beendet werden kann, geschweige denn, wann. Der Krieg ist noch da, das bedeutet tatsächlich: Es sterben jetzt, während die Sonne scheint, während ich hier Buchstaben tippe, Menschen, Häuser explodieren, Kinder sind in ukrainischen Krankenhäusern unterversorgt und müssen in regelmäßigen Abständen aus ihren Krankenbetten in Luftschutzkeller flüchten.
Die Menschen, die aus dem Kriegsgebiet nach Deutschland flohen, sind immer noch hier, bei uns, suchen immer noch Unterkünfte, Schulplätze, Arbeit, Kleidung, Gastfreundschaft, können immer noch nicht schlafen: Sie fürchten um geliebte Menschen in diesem bekriegten Land, das sie Zuhause nennen, werden von Ängsten, von Erinnerungen an plötzliche Zerstörung verfolgt. Kinder vermissen Väter, Mütter fürchten um Söhne, was nach Pathos klingt, aber für diese Menschen Wirklichkeit ist, simple Tatsache in einsamen, durchwälzten Nächten. Wenn die Kinder fragen, wann sie wieder zurückkehren können, wissen die Eltern keine Antwort, der Krieg, sagen sie, ist immer noch da.
Die Folgen des Krieges machen sich in unserer Gemütlichkeit breit, als hätten sie vor zu bleiben.
Seit dem 24. Februar sind sechs Monate vergangen, der Herbst wird kommen, er wird auch wieder verschwinden. Wir werden »Wie schrecklich« sagen und seufzen, wenn wir Berichte darüber sehen, wie das bürgerliche Neujahr im Kriegsgebiet begangen wird, wie die Menschen zwischen Ruinen zu feiern versuchen.
Und im Februar werden wir vermutlich sagen: »Jetzt dauert der Krieg schon ein Jahr«, wir werden ein Ausrufungszeichen dahinter setzen: »Schon ein Jahr!« Werden wir, wenn wir das sagen, um unsere eigene Verankerung in der Welt wissen? Um unsere Bezüge zu dem, was da geschieht? Um unsere Verantwortung? Und werden wir weiter denken als jetzt?
Die Autorin ist Schriftstellerin und lebt in München. Sie wurde 1981 in Leningrad geboren. Als Elfjährige kam sie mit ihrer Familie nach Deutschland.