Verzeihung, wären Sie bereit, einen Minjan vollzählig zu machen? Nur für das Kaddisch.» Schon steckt das Krokodil mitten in einer merkwürdigen Mordgeschichte. Das Krokodil hat zwar mindestens sieben Leben, aber schon mit einem ist es überfordert. Zwischen zigfacher Leichenschau, den zum Wahnsinn treibenden Gedächtnislücken alter Menschen und der Kränkung des britischen Empires bleibt ihm immerhin wenig Zeit für die Anflüge einer Midlife Crisis. Dabei will das Krokodil lieber in den Zoo gehen oder andere lustige Sachen mit seiner Tochter machen.
Doch dafür lässt Assaf Gavron seinem Protagonisten in Achtzehn Hiebe wenig Gelegenheit. Denn der neueste Streich des Autors ist eine wendungsreiche Taxifahrt durch Tel Aviv, berührt die Gründungsgeschichte Israels und löst einen Geronto-Kriminalfall.
Fahrgäste Das Krokodil heißt eigentlich Eitan Einoch. Den Spitznamen gaben ihm die Medien, als er vor Jahren drei palästinensische Terroranschläge in einer Woche überlebte. Dies schilderte Assaf Gavron übrigens bereits 2008 in seinem Buch Ein schönes Attentat, dessen Quasi-Fortsetzung der neue Roman ist.
Glück gehabt, dachte Eitan damals für sich selbst, zum Helden aufbauen ließ er sich nicht. Heute, zehn Jahre später, fährt er Taxi und plaudert mit seinen Fahrgästen. Kann ja niemand ahnen, dass es ausgerechnet mit der sympathischen alten Dame namens Lotta kriminell wird, die er täglich zum Friedhof fährt. Dort liegt ihre Jugendliebe Eddi begraben, den sie nach 67 Jahren wiedertraf. Und der ermordet wurde, wie sich Lotta sicher ist.
Eitan stolpert in die Geschichte einer Freundschaft, die 1946 begann. Zwei britische Soldaten sind in Palästina bei der Mandatsregierung stationiert. Jeder verliebt sich in eine Jüdin. Als eingeschworenes Quartett zweier Pärchen führen sie ihre offiziell nicht gern gesehenen Beziehungen. Bis die Briten einer Strafaktion der zionistischen Untergrundorganisation zum Opfer fallen: Aus Rache für blutig abgestrafte Juden müssen die Briten 18 Peitschenhiebe erleiden.
liebe Zwischen persönlicher und nationaler Scham zerbrechen alle Liebesbande. Nur, wenn er die losen Enden verknüpfen kann, wird Eitan das mörderische Geschehen in der Gegenwart aufhalten. Dessen ist sich der unfreiwillige Detektiv gewiss.
Der in Tel Aviv lebende Assaf Gavron schaut dorthin, wo es wehtut, wo andere lieber abblenden. Der Autor, der auch als Musiker tätig ist und unter anderem Philip Roth und Jonathan Safran Foer ins Hebräische übersetzt hat, schrieb über Selbstmordattentate und Wasserkrieg.
Sein 2013 erschienener Roman Auf fremdem Land befasst sich mit der Siedlerbewegung und ihren Widersprüchen. Darin übt er keine platte Kritik, sondern einen differenzierten Blick. Achtzehn Hiebe ist von der politischen Brisanz tiefer gelegt, aber auch hier gelingt Gavron das Gegeneinandersetzen verschiedener Perspektiven, sodass man bis zum Ende nicht weiß, wem und was man exakt glauben kann.
Typen Der Roman ist zwischen dem die Leserneugier gefangen nehmenden Kriminalfall und Alltagserlebnissen des Protagonisten gut ausbalanciert. Als Taxifahrer gestrandet, fühlt sich Eitan ganz wohl dabei, seine Fahrgäste zu taxieren und kleine Persönlichkeitsprofile zu erstellen. Auf diese Weise werden in seinen Schilderungen der Taxifahrten und Typen zwischen den Stationen der geheimnisvollen Geschichte Bilder der israelischen Gesellschaft sichtbar. Im Taxifond wie im Boxklub, in dem Eitan trainiert, wird das Multikulturelle in all seinen Facetten und mitunter Problemen mit leiser Ironie skizziert.
Infohäppchen zur Geschichte der Taxinummern und Biografisches zu Straßennamen machen Eitans Taxifahrerseele plastisch, ohne die Lektüre aufzublasen. Wenig ausgeschmückt sind auch die Orte der Handlung. Wer schon mal dort war, erkennt sie wieder, wenn nicht, ist es nicht schlimm. Nebenbei erfährt man, wo man das beste Schawarma verzehren kann.
Novellenartig konzentriert sich der Text auf die Handlung und die Personenkonstellation, dazwischen geschnitten ist Eitans Introspektion. Nüchtern ist der Stil, knapp auf den Punkt fällt auch die Figurencharakterisierung aus. Lotta wird mit zinnoberrot geschminkten Lippen und Sonnenbrille geschildert. Lediglich bei erotischen Ausflügen erlaubt sich Gavron etwas größeren Beschreibungsspielraum – ohne allerdings zu tief ins Detail zu gehen.
alter Der Roman soll unterhalten, und das gelingt ihm; die die Handlung einrahmenden Reflexionen über das Alter geben ihm dabei einige Tiefe. Diese geschehen aus zwei Perspektiven: Protagonist Eitan denkt über sein Leben als Single nach, die verlorene große Liebe und die Möglichkeiten der spontanen sexuellen Zusammenkunft. Er fragt sich, ob er etwas verpasst hat; immerhin füllt ihn die unendliche Liebe zu seiner Tochter aus.
Blass kommen ihm seine amourösen Abenteuer vor, angesichts der total neu-alt verknallten Lotta. Die über 80-Jährige schildert in den kitschigsten und daher ehrlichsten Tönen ihre einwöchige Liebe. Nach mehr als 60 Jahren Funkstille reicht ein Moment, um die vertraute, verschüttete Wut wieder zu entflammen. Es ist erholsam, von Hochbetagten nicht nur als Mängelwesen und Scheintoten zu lesen, sondern sie als empfindsame Wesen zu erfahren.
Miteingewebte Aspekte wie die Rolle des Individuums in der Geschichte – beendete die persönliche Peitschenrache wirklich die Mandatszeit? –, der Umgang mit verschütteten Erinnerungen und das Verhältnis von Individuum und Nation machen Achtzehn Hiebe zu einer begeisternd dichten Lektüre.
Assaf Gavron: «Achtzehn Hiebe». Luchterhand, München 2018, 415 S., 22 €