Essay

Im schönsten Feiertagsstaat

Der Zionismus geht baden: Eine israelische Familie feiert Jom Haazmaut im Jordan. Foto: Flash 90

Auf einer meiner Israelreisen lernte ich vor ein paar Jahren einen jungen Mann kennen, der wie ich aus Russland stammt. Beim Mittagessen in einem netten »lo koscher«-Restaurant in Tel Aviv erzählte er mir von einem Freund aus der Ukraine, der als Kind mit seinen Eltern mit gefälschten Dokumenten nach Israel zugewandert war. Diese »fake identity papers« hatten der ukrainischen Familie mit christlichen Vorfahren eine jüdische Herkunft bescheinigt und somit die Flucht aus der bitteren Armut im postsowjetischen Charkow ermöglicht. Letztlich spielten die Echtheit von Papieren und ähnliche Kleinigkeiten aber im Leben keine große Rolle, behauptete der junge Mann.

Sein Freund aus der Ukraine, ein erfolgreicher Computerfachmann in Tel Aviv, sei in Israel zu Hause, habe den Militärdienst hinter sich und werde demnächst eine Familie gründen.

normalität »Und? Wie fake ist denn nun seine identity?«, fragte ich. »Fühlt er sich heute als Jude?« »Er fühlt sich als Israeli«, sagte mein Gesprächspartner und lachte. »Was soll er denn sonst sein?« »Dann feiert er bestimmt auch den Unabhängigkeitstag«, scherzte ich. Es war Frühjahr, Jom Haazmaut stand vor der Tür. »Aber sicher. Feiertag ist Feiertag.«

Für mich, einen Mehrfachmigranten und »Diasporajuden«, der in Österreich lebt, war dieses Gespräch aufschlussreich und amüsant zugleich. Aber es stimmte mich auch nachdenklich. Sollte sich Herzls Hoffnung bewahrheitet haben? Israel scheint – wenn auch langsam und mit vielen Rückschlägen – auf dem Weg zu sein, ein »normaler« Staat zu werden. Allerdings ist diese Normalität von einer ganz anderen Art, als es sich Herzl vorgestellt hatte.

»Was bedeutet es eigentlich, Israeli zu sein?«, fragte ich den jungen Mann. »Und ich meine natürlich nicht die Staatsbürgerschaft.« Er zuckte mit den Achseln. »Was bedeutet es, Franzose oder Österreicher zu sein?« »Christen, Mulime, Juden, Weiße und Schwarze, Elsässer, Korsen und Algerier können Franzosen sein und sich als Franzosen fühlen«, antwortete ich. »Juden, Araber, Drusen, afrikanische Flüchtlinge oder nichtjüdische Russen können Israelis sein und sich als solche fühlen. Der Unterschied ist allerdings, dass sich Frankreich französisch definiert, der israelische Staat definiert sich hingegen jüdisch. Verstehst du, was ich meine?«

nation Er verstand, was ich meinte, aber ich merkte bald, dass ihn das Thema nicht sonderlich interessierte. »Während eines Raketenangriffs ist es dir egal, ob dein Sitznachbar im Bunker beschnitten ist oder wie seine Großeltern zu Gott gebetet haben. Mitgefangen, mitgehangen.«

Diese Antwort befriedigte mich nicht. Ich ließ nicht locker. »Zu Herzls Zeiten war die Sache einfacher«, sagte ich. »Damals hatten alle Europäer eine viel enger umrissene und klarer definierte Vorstellung von Nation und Staat. Der Zionismus war eine Befreiungsbewegung für das jüdische Volk. Heute jedoch wollen meine linken österreichischen Freunde von mir wissen, wie ich es vereinbaren könne, einerseits den traditionellen Begriff der Nation abzulehnen, die Rechten in Österreich zu kritisieren, für Zuwanderung und eine multikulturelle Gesellschaft einzutreten und andererseits nichts dabei zu finden, dass Israel per definitionem ein jüdischer Staat ist, was zwar Juden zur Identifikation dient, andere jedoch, selbst wenn sie dort alle Rechte haben, auch dann, wenn sie nicht verfolgt oder diskriminiert werden, von diesem Identifikationsprozess ausschließt.«

»Ach oh je«, seufzte mein Gesprächspartner. »Ich merke, du bist so ein typischer intellektueller Diasporajude. Du lebst nicht hier in Israel, aber du denkst ständig darüber nach. Wenn wir in hundert Jahren auf einer Wolke sitzen und auf Israel hinunterschauen, setzen wir dieses Gespräch fort. Bis dahin wird sich die Frage hoffentlich irgendwie geklärt haben. Ich werde jedenfalls den Unabhängigkeitstag mit meinem ukrainischen Freund feiern. In einem ›lo koscher‹-Lokal natürlich …«

Auch mein Vater hatte den israelischen Unabhängigkeitstag jahrelang »lo koscher« gefeiert. In der Sowjetunion waren koschere Speisen schwer aufzutreiben, doch mein Vater wäre so oder so nie auf den Gedanken gekommen, koscheres Essen könne etwas mit seinem Jüdischsein zu tun haben. Den Unabhängigkeitstag Israels als Feiertag zu begehen, war nicht ungefährlich, galt doch das »zionistische Gebilde« für die sowjetischen Machthaber als Feind. Also organisierte Vater geheime Zusammenkünfte mit seinen zionistischen Freunden, bei denen auf das Wohl der »Heimat« und seine Zukunft angestoßen wurde.

Heimat Die »Heimat« war schon seit seiner Jugendzeit nicht mehr Russland, sondern Israel, ein Land, das er allerdings erst später, im Alter von 39 Jahren, das erste Mal betreten würde. Sein Entschluss, nach Israel auszuwandern, reifte in den Jahren nach der Gründung dieses Staates, als zu den üblichen antisemitischen Anfeindungen, denen er im russischen Alltag ausgesetzt war, plötzlich der immer öfter zu hörende Standardsatz hinzukam: »Hau doch ab! Verschwinde in dein Israel.« Dies entbehrte nicht einer gewissen Ironie, meinte Vater. Es gab einen Staat der Juden, der als Reaktion auf den Antisemitismus geplant und gegründet worden war, und es gab Antisemiten, die zionistischer waren als manche Juden.

Dem wollte Vater nicht widerstehen. Wenn sie mir schon eine neue Heimat zuordnen, dachte er, dann werde ich Israel auch tatsächlich zu meinem Israel machen ... Warum er dort trotzdem nicht heimisch werden konnte und seinen Lebensabend schließlich in Österreich verbrachte, ist eine andere Geschichte.

Für mich, den österreichischen Diasporajuden, bleibt Israel (mehr intuitiv als rational) stets ein Ort von existenzieller Bedeutung. Er gibt mir ein Gefühl der Sicherheit. Wie ginge es den Juden heute wohl, wenn es keinen jüdischen Staat gäbe, der jederzeit bereit ist, sie aufzunehmen? Mit einem Volk, dessen Schicksal in vielerlei Hinsicht eben nicht »normal« ist wie das anderer Völker, ist wohl auch kein »normaler« Staat zu machen. Oder doch? Warten wir’s ab und schauen in hundert Jahren, wo wir hin- (oder hinein-)geraten sind.

Vladimir Vertlib lebt als Schriftsteller in Salzburg. Sein neuer Roman »Schimons Schweigen« ist im Frühjahr bei Hanser erschienen (272 S., 19,90 €).

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