Zwei Sätze nur sind es, in denen sich die gegenwärtige tschechische Literatur spiegelt: »Mein Großvater war Jäger, er sagte mir immer, die Tiere zu töten ist nicht gut, doch wenn du schon ein Tier töten musst, mach es schnell.«
So schreibt es Jaroslav Rudis in seinem gerade erschienenen Roman Winterbergs letzte Reise, und dann schiebt sein Protagonist hinterher: »Die Tiere werden sich mal an uns rächen, sagte mein Großvater immer, einmal werden sich die Rehe für alles rächen, ja, ja, und so werden es auch die Menschen tun, die wir umgebracht haben.«
Es sind tiefe Gräben, über die Tschechiens Autoren geradezu leichtfüßig spazieren, und der 46-jährige Jaroslav Rudis wird in diesem Jahr zum Aushängeschild der Prager Literatur – sein Roman ist nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse.
Die tschechische Literatur erlebt gerade eine Renaissance.
renaissance Tschechien ist Gastland auf der Leipziger Buchmesse und will an den vier Messetagen beweisen, dass die tschechische Literatur gerade eine Renaissance erlebt. Die enge literarische Verbindung zwischen den beiden Nachbarländern Tschechien und Deutschland wird im Mittelpunkt stehen – und hat bedeutende historische Wurzeln.
Viele Größen aus der deutschsprachigen Literatur hatten im heutigen Tschechien ihre Heimat: Franz Kafka natürlich, der unangefochten berühmteste Prager Schriftsteller; dazu Max Brod, Franz Werfel, Egon Erwin Kisch und viele andere. Was diese Autoren aus vergangenen Generationen verbindet, ist außer ihrer Prager Verwurzelung ihre jüdische Familiengeschichte.
Es sind nicht zuletzt diese Intellektuellen, die seit 1918, als die Tschechoslowakei gegründet wurde, die enge Verbindung zu Israel geprägt haben. Der erste Präsident Tomas Garrigue Masaryk bezeichnete sich als Zionist, obwohl er kein Jude war. Und weit später, nach dem Zweiten Weltkrieg, bildeten tschechische Soldaten israelische Kampfpiloten aus, was als einer der Gründe für den Sieg im Sechstagekrieg gilt.
kader In der Tschechoslowakei waren seit 1948 viele führende Kader der Kommunistischen Partei Juden. Eindrucksvoll nachzulesen ist das in der 1989 auf Deutsch erschienenen Autobiografie von Eduard Goldstücker (Prozesse. Erfahrungen eines Mitteleuropäers): Der spätere Germanistikprofessor war überzeugter Kommunist und der erste tschechoslowakische Botschafter in Israel.
In der Tschechoslowakei wurden nach groß angelegten Schauprozessen mehrere Funktionäre der Kommunistischen Partei hingerichtet, fast alle Juden. An ihrer Spitze stand Rudolf Slansky, Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei. Eduard Goldstücker selbst wurde zu langjähriger Lagerhaft verurteilt. Sein persönliches Schicksal und das der anderen hochrangigen jüdischen Funktionäre nüchtern zu analysieren – das gelang ihm erst später.
Die Verbindung zum Judentum und auch zu Israel hat einen besonderen Stellenwert.
Die Verbindung zum Judentum und auch zu Israel hat in Tschechien bis heute einen besonderen Stellenwert. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs war der damalige Präsident Vaclav Havel das erste Staatsoberhaupt aus Mittel- und Osteuropa, das zum Staatsbesuch nach Israel flog. Und: Tschechien ist eines jener Länder, die eine EU-Resolution verhindert hatten, als vor einigen Monaten die amerikanische Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem verlegt worden war.
israel Der tschechische Präsident Milos Zeman tritt seit vielen Jahren dafür ein, die tschechische Botschaft ebenfalls nach Jerusalem zu verlegen. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu verkündete schon vor rund sieben Jahren anlässlich eines Staatsbesuchs in Prag, Israel habe in Europa keinen besseren Verbündeten als Tschechien.
Während in der Politik die Kontinuität der tschechisch-israelischen Beziehungen eine wichtige Rolle spielt, sind die jüdischen Stimmen in der tschechischen Literatur deutlich schwächer geworden – zumindest quantitativ: Gerade einmal vier der 64 tschechischen Titel, die jetzt zur Leipziger Buchmesse auf Deutsch vorgestellt werden, stammen von jüdischen Autoren.
Gerade einmal vier der 64 tschechischen Titel, die jetzt zur Leipziger Buchmesse auf Deutsch vorgestellt werden, stammen von jüdischen Autoren.
Einer von ihnen ist die Neuübersetzung eines Werks, das in Tschechien längst Klassikerstatus genießt: Die Bezirksstadt ist ein Roman aus österreichisch-ungarischen Zeiten des Humoristen Karel Polacek, der 1945 auf einem Todesmarsch ermordet wurde.
Die anderen drei Titel stammen von zeitgenössischen Autoren: Martin Vopenka erzählt in Mein Weg ins Ungewisse die Geschichte eines Mannes, der seine Ehefrau verliert und zur Verarbeitung der Trauer mit seinem achtjährigen Sohn zu einer weiten Reise aufbricht. Im Roman Die große Nachricht vom schrecklichen Mord an Simon Abeles rekonstruiert Marek Toman einen tatsächlichen Kriminalfall aus dem Prag des 17. Jahrhunderts: Der zwölfjährige Jude Simon Abeles beschließt, zum Christentum zu konvertieren, und wird kurz darauf tot aufgefunden.
Ein weiterer Titel stammt von Karol Sidon, dem tschechischen Oberrabbiner, der in Prag auch als Schriftsteller bekannt ist: In Traum von meinem Vater schildert er seine jüdische Kindheit im Prag der 40er- und 50er-Jahre – und lässt auf diese Weise eine Zeit wieder lebendig werden, die längst vergangen und vergessen geglaubt war.
Der Autor ist Journalist und lebt als Korrespondent in Prag.