Eigentlich war Segev Azulai (Lior Raz) glücklich. Zwar ist der Tourguide aus Tel Aviv geschieden, doch mit der amerikanischen Tänzerin Danielle (Kaelen Ohm), Mitglied der Batsheva Dance Company in Jaffa, hat er eine neue Liebe gefunden, die sogar von seiner zehnjährigen Tochter Ella (Neta Orbach) akzeptiert wird. Doch kurz bevor Danielle aus beruflichen Gründen zu einem Trip nach New York aufbricht, wird sie mitten in Tel Aviv von einem Auto überfahren, dessen Fahrer anschließend Fahrerflucht begeht.
So beginnt die neue Netflix-Serie Hit & Run, für die sich die beiden Autoren der Erfolgsserie Fauda, Avi Issacharoff und Lior Raz, der in beiden Serien die Hauptrolle spielt, mit ihren amerikanischen Kollegen Dawn Prestwich und Nicole Yorkin (The Killing) zusammengetan haben.
Bald stellt sich heraus, dass hinter dem vermeintlichen Unfall mehr steckt. Und Danielle nicht die Person war, die sie zu sein schien. Was ist ihre Verbindung zu dem geheimnisvollen Assaf (Lior Ashkenazi), der für Israels Nationalen Sicherheitsrat arbeitet? Was wollte sie wirklich in New York? Und warum verhält sich ihr Vater (Gregg Henry) nicht unbedingt so, wie man es von einem trauernden Elternteil erwarten würde?
REGIERUNG Die Suche nach den wahren Hintergründen von Danielles Tod führt Segev alsbald nach New York, wo er mit der Hilfe seines alten Armeekameraden Ron (Gal Toren) und seiner Ex-Freundin Naomi (Sanaa Lathan) auf eigene Faust ermittelt und in ein Netz aus Intrigen, Staatsgeheimnissen, Überwachungsskandalen und Geheimdienstoperationen gerät.
CIA und Mossad sind dem Protagonisten auf den Fersen, und sehr gekonnt wird eine Atmosphäre konstruiert, die an die besten Verschwörungsthriller der 70er-Jahre wie Three Days of the Condor oder The Parallax View erinnert und in der man niemandem trauen kann, am wenigsten der eigenen Regierung.
Im Gegensatz zu Doron Kavillio in »Fauda« ist Segev Azulai auf rein privater Rachemission.
Das alles ist extrem spannend inszeniert und hält die Zuschauer bis zuletzt bei der Stange. Sobald man zu wissen glaubt, wer die Schurken sind, folgt der nächste Plot Twist, und die Karten werden neu gemischt.
»KÜHLSCHRANKLOGIK« Nach vielen Filmen stellt sich das ein, was Alfred Hitchcock als »Kühlschranklogik« bezeichnet hat: Wenn der unmittelbare Nervenkitzel vorbei ist und man zum Kühlschrank geht, um sich ein Bier zu holen, fällt einem ein: »Moment mal, das würde doch in der Realität niemals funktionieren, was ich da vorhin gesehen habe.« Für Hitchcock ist das nicht unbedingt eine Schwäche des Films, sofern solche Gedanken sich erst im Nachhinein einstellen. Bei Hit & Run besteht leider mehrmals die Gefahr, dass die Kühlschranklogik bereits während des Zuschauens ihr Recht fordert.
Lior Raz wiederholt praktisch seine Rolle aus Fauda: die des liebenswert-knuffigen Armee-Veteranen mit verkorkstem Privatleben, der, wenn die Situation es erfordert, erstaunlich gewalttätig werden kann. Bleibt diese Gewalt in Fauda jedoch stets durch den Antiterrorkampf motiviert und sein Doron Kavillio dadurch sympathisch, fällt es nicht immer leicht, für Segev Azulai Verständnis aufzubringen, wenn er gerade wieder einem Bösewicht das Gesicht zu Brei schlägt. Denn hier befindet er sich auf einer rein privaten Rachemission.
Wenn er zum Beispiel mitten in Manhattan mit zwei der vermeintlichen Mörder seiner Frau kurzen Prozess macht – und das auch noch, bevor sie ihm verraten können, wer ihr Auftraggeber war – und damit die New Yorker Polizei auf seine Spur bringt, treibt das zwar die Handlung voran, aber Logik und Glaubwürdigkeit leiden darunter.
CLIFFHANGER Angekündigt waren ursprünglich zehn Episoden, gezeigt wurden allerdings nur neun, deren letzte mit einem extrem manipulativen Cliffhanger endet. Es lässt sich derzeit nur spekulieren, ob Netflix kurzfristig eine zweite Staffel in Auftrag gegeben hat, für die man die Zuschauer bei der Stange halten muss, denn die Geschichte hätte sich bequem in einer weiteren Folge zu Ende erzählen lassen.
Es lässt sich derzeit nur spekulieren, ob Netflix kurzfristig eine zweite Staffel in Auftrag gegeben hat.
Bei einer weiteren Staffel droht wie bei vielen Serien die Gefahr, eine ursprünglich originelle Idee so lange breitzuwalzen, bis jegliches Leben aus ihr verschwunden ist. Das Schicksal der amerikanischen Netflix-Serie Bloodline sollte hier Warnung sein. Manche Stoffe haben in der Miniserie ihre adäquate Form und lassen sich nicht beliebig verlängern.
REALISMUS Eine Beobachtung zum Schluss: Hit & Run zeigt, wie sogar israelische Serien – zuvor betraf dies zum Beispiel auch schon Shtisel oder Losing Alice – ihren zu Recht so sehr gelobten großen Realismus und Gegenwartsbezug allmählich zu verlieren drohen, je länger sich die Welt den gesellschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise gegenübersieht. Das New York und das Tel Aviv von Hit & Run sind komplett maßnahmenfrei, der Reiseverkehr zwischen den beiden Städten frei und ungehindert.
Das ist verständlich; welcher Zuschauer möchte schon am Abend auf dem Bildschirm maskierte Gesichter sehen, mit denen er seit Monaten schon Tag für Tag in seinem eigenen Leben konfrontiert ist? Und bestimmte Geschichten lassen sich unter den Bedingungen von Ausgangssperren und Abstandsgeboten, unter denen sich das gesellschaftliche Leben auf den engsten privaten und beruflichen Bereich beschränkt, schlicht nicht erzählen; das gilt natürlich besonders für Spionagestorys mit internationaler Tragweite. Solche Geschichten wollen weiterhin erzählt werden, aber wie lange noch lassen sie sich in einem nie endenden fiktiven 2019 ansiedeln?
Filme und Serien, die in der von Corona und den Reaktionen darauf geprägten Gegenwart spielen, ohne dies zum Hauptthema zu machen – das wäre die nächste große Herausforderung für Drehbuchautoren und Regisseure. Vielleicht kann Israel auch hier Avantgarde sein. Das kreative Talent ist jedenfalls vorhanden.