Literatur

Im humoristischen Abgrund des Absurden

Yossarian lebt! Und Joseph Heller auch! Zur Erinnerung an den jüdisch-amerikanischen Großromancier

von Alexander Kluy  04.05.2023 15:40 Uhr

Joseph Heller (1923–1999) Foto: picture alliance / Effigie/Leemage

Yossarian lebt! Und Joseph Heller auch! Zur Erinnerung an den jüdisch-amerikanischen Großromancier

von Alexander Kluy  04.05.2023 15:40 Uhr

Manchmal ist es bemerkenswert, in welche Sackgassen die Dame Memoria, Verkörperung des Gedächtnisses, stolpert und dann einfach stumm liegen bleibt.

Da hat Joseph Heller mehr als einen überragenden Roman geschrieben, eine ganze Handvoll eminenter, übersprudelnder Epopöen. Darunter mit Catch-22 eine Groteske, die viele zu den besten US-amerikanischen Prosawerken nach 1945 zählen.

KUNSTSTÜCK Wieso aber ist er heute so vergessen, zumindest hierzulande? Im englischen Sprachraum sind alle seine Bücher lieferbar. Sein letzter Roman, den er kurze Zeit vor seinem tödlichen Herzinfarkt am 13. Dezember 2000 vollendete, Portrait of the Artist as an Old Man, wurde nicht mehr übersetzt, auch nicht seine Storys Catch as Catch Can. Dabei ist Portrait Hellers vielleicht verspieltestes, hellstes und ein hochvirtuoses Jongleur-Kunststück.

Die Groteske »Catch-22« wird von vielen zu den besten US-amerikanischen Prosawerken nach 1945 gezählt.

Es mag mit vielem zusammenhängen. Ein Autor, der gern auf Fotos lachend zu sehen war – ist das nicht unteutonisch unseriös? Heller war kein Vielschreiber, oft lagen mehrere Jahre zwischen den Büchern, zwischen Erst- und Zweitling gar 13. Er war ein Autor, der mit jedem Roman Neues wagte. Dabei, stets ein Malus bei der Kritik, kommerziell überaus erfolgreich war. Auch eine Rolle mag spielen, dass die meisten seiner Bücher in eher durchschnittlichen deutschen Übersetzungen vorlagen.

AUTOBIOGRAFIE Dabei ist es an der Zeit, Joseph Heller wieder zu entdecken. Beginnen sollte man vielleicht am besten mit der Autobiografie Now and Then, Einst und jetzt. Darin schildert er leuchtend seine arme Kindheit und Jugend in einem jüdischen Straßengeviert auf Coney Island. Sein Vater starb, als er fünf war, seine Mutter zog die zwei älteren Kinder aus des Vaters erster Ehe mit auf. Heller zeichnet ein verschwundenes Atlantis nach.

Nach der Highschool verdingte er sich als Fahrrad- und Bürobote. Und wäre dies geblieben, wäre der Krieg nicht gekommen. Er diente in einem Bombengeschwader im Mittelmeer. Kehrte zurück. Und konnte dank der »G. I. Bill« studieren, erwies sich als hochbegabt, bekam ein Fulbright-Studium für Oxford. War zwei Jahre Unidozent, bevor er in die Marketingabteilungen von »Time«, »Newsweek« und »Collier’s« wechselte. Und hielt 1953 auf 20 Seiten eine Prosaideee fest, Nukleus von Catch-22, das im November 1961 erschien und bis zur vorletzten Produktionsstufe noch »Catch«-18 betitelt war. Bis Leon Uris Warschauer Aufstand-Roman Mila 18 erschien.

BESTSELLER Der Verkauf war schleppend, die Rezensionen waren verhalten bis negativ. Ab dem Frühjahr wurde der Roman via Großbritannien zum Erfolg und mit der Taschenbuchausgabe, die im Herbst 1962 erschien, zum Millionenseller. 1974 erschien Something Happened, Was geschah mit Slocum, eine gallenbittere Gegenwarts-Abrechnung.

Die nächsten Romane waren nicht ausrechenbar. Die Burleske Good as Gold (1976, »Gut wie Gold«) kreist um einen jüdischen Uniprofessor, der erster jüdischer US-Außenminister werden soll. God Knows (1984, Weiß Gott) ist ein König-David-Roman, das fahrlässig von der Presse abgewertete Picture This (1988, Rembrandt war 47 und sah dem Ruin ins Gesicht) eine kunstvolle Darstellung von Tod und Kunst und Leben und Scheitern und Closing Time (1994, »Endzeit«) ein herrlich absurdes Sequel von Catch-22.

Erst mit über 50 habe er ein Buch mit einem jüdischen Protagonisten begonnen – Joseph Heller meinte Bruce Gold in »Gut wie Gold«.

Dazwischen lag 1986 mit Überhaupt nicht komisch der Bericht über seine Erkrankung am Guillain-Barré-Syndrom, das zu einer fast vollständigen Lähmung führte und zu langer Rehabilitation. Doch Heller wäre nicht Heller gewesen, gebenedeit mit Ironie und Selbstironie, wenn er dies nicht furios erzählt hätte. Furios vierhändig. Zusammen mit dem Freund Speed Vogel, einem Künstler. Es ist ein zweistimmiger Gegen-Mit-Gesang, in dem sich Heller kritisieren und auch charakterlich demontieren lässt.

Heller war Anfang 1988 Gast in der Valley Beth Shalom-Synagoge in Encino, Kalifornien. Und bekannte, es sei schwer für ihn, den Nicht-Observanten, gewesen, ein jüdischer Romancier zu werden. Erst mit über 50 habe er ein Buch mit einem jüdischen Protagonisten begonnen, er meinte Bruce Gold in Gut wie Gold. In Catch-22 gebe es 44 Figuren, keine davon jüdisch.

Oder doch? Einmal habe ihn ein Leser gefragt, Yossarian, der Bordschütze in der gläsernen Flugzeug-Nase, der keinen Flug mehr absolvieren will, sich als verrückt deklariert und die exaltiert bürokratisch-repressive Militär-Maschinerie aus Dummheit, Paranoia, Eitelkeit, Zynismus erlebt – das Prinzip Catch-22 lautet: Wer sich als verrückt deklariert, um nicht mehr fliegen zu müssen, hat, um entlassen zu werden, Unterlagen ausfüllen, wenn er diese korrekt ausfüllt (unkorrekt ausgefüllte werden nicht bearbeitet), ist klar, dass er nicht verrückt ist und sofort auf den nächsten Bomberflug geschickt –, Yossarian sei doch im Prinzip Jude.

Er, Heller, habe nachgedacht. Und dann zugestimmt. Der Leser: Und was sei mit dem skrupulös sensiblen Außenseiter-Kaplan, der sich fehl am Platz fühlt und zermahlen wird von frei erfundenen Vorwürfen? Am Schluss des Gesprächs seien sie sich einig gewesen: Jeder der Guten in Catch-22 sei Jude.

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