Eine Schranktür, eine Luke im Parkettboden, ein Hohlraum in einer mächtigen Eiche: Die dezent schimmernden Skulpturen, denen man derzeit im Jüdischen Museum Frankfurt begegnet, verweisen nicht bloß auf Alltägliches und Gewöhnliches. Vielmehr handelt es sich dabei um Abdrücke wesentlicher architektonischer Elemente von Verstecken, die polnische Jüdinnen und Juden während der Schoa einrichteten, um der drohenden Ermordung durch die heranrückende deutsche Wehrmacht zu entgehen.
Die versilberten Skulpturen sind ein Blickfang in der Ausstellung Natalia Romik. Architekturen des Überlebens, die neun exemplarische Verstecke in den Fokus rückt. Die Geschichte des Verstecks von Anne Frank und der Versuche anderer deutscher Juden, ihrer Verfolgung und Ermordung zu entkommen, sei schon vielfach erzählt worden, sagt Museumsdirektorin Mirjam Wenzel. Die Geschichten der Überlebensversuche osteuropäischer Juden seien in Westeuropa hingegen fast unbekannt. »Etwa 50.000 polnische Jüdinnen und Juden überlebten versteckt die Schoa auf dem Gebiet des sogenannten Ansiedlungsrayons im Westen des vormaligen russischen Kaiserreichs«, so Wenzel.
Die Schau wurde bereits in der Nationalen Kunstgalerie Zacheta in Warschau sowie im Zentrum für zeitgenössische Kunst TRAFO in Stettin gezeigt. Sie basiert auf Recherchen der Künstlerin, Architektin und Politikwissenschaftlerin Natalia Romik zu den Verstecken, die vor allem auf den heutigen Staatsgebieten Polens und der Ukraine liegen. Neben den zwischen autonomem Kunstwerk und Mahnmal angesiedelten Skulpturen umfasst die Ausstellung auch einen – lobenswert konsequent vom künstlerischen Teil getrennten – wissenschaftlich-dokumentarischen Abschnitt. Die in eigens angefertigten Vitrinen gezeigten historischen und zeitgenössischen Dokumente, Berichte, Fotografien und Fundstücke machen Romiks jahrelange Forschungsarbeit anschaulich. Ergänzt wird diese Präsentation durch forensische Untersuchungen der vormaligen Verstecke, die Natalia Romik mit einem interdisziplinären Forscherteam absolvierte.
Auch wenn die Schau zunächst weder auftrumpfend noch überwältigend daherkommt, lässt sie den Überlebensmut der teils anonymen Protagonistinnen und Protagonisten ebenso spürbar werden wie die Dramatik ihrer Lage. So bot die Abwasserkanalisation der Stadt Lwiw (Ukraine; ehemals Lemberg) mehreren Dutzend Jüdinnen und Juden Zuflucht vor den NS-Besatzern. Der hohle Baumstamm der eingangs erwähnten, über 600 Jahre alten Josefseiche im polnischen Wisniowa diente wahrscheinlich Dawid und Paul Denholz als Versteck. Die Brüder überlebten die Schoa und emigrierten nach Kriegsende in die Vereinigten Staaten.
Zwei Familien versteckten sich wiederum in einem nicht belegten, ausgebauten Grab auf dem Jüdischen Friedhof an der Okopowa-Straße in Warschau, bevor sie entdeckt wurden. Nur zwei Jugendliche überlebten, nach dem Zweiten Weltkrieg wanderten sie nach Israel aus. Einer von ihnen, Abraham Carmi, besuchte den Ort seines Verstecks mehrmals mit israelischen Reisegruppen. In Huta Zaborowska, einem Dorf in Zentralpolen, konnte sich mutmaßlich ein Kind in einem Holzschrank verstecken: Das im Inneren mit Zeichnungen und Inschriften versehene Möbelstück ist derzeit in Frankfurt zu sehen.
Dieses Exponat macht die prekäre Situation der Versteckten unmittelbar sinnlich erfahrbar. Und auch, wenn die Frankfurter Präsentation lange vor dem 7. Oktober 2023 geplant wurde, erscheinen einige der dort gezeigten Geschichten beklemmend aktuell, wie Mirjam Wenzel erläutert: »Diesen Schrank bringen wir heute auch mit der Erzählung von dem Schrank in Verbindung, in dem zwei Kinder in einem Kibbuz überlebten, während ihre Eltern von der Hamas erschossen wurden.«
Die Ausstellung ist bis 1. September im Jüdischen Museum Frankfurt zu sehen. www.juedischesmuseum.de