Im Juni 1942 fragt ein deutscher Offizier in Paris einen jungen Mann auf der Straße, wo der Place de l’Étoile sei. Der Befragte zeigt nur wortlos auf die linke Seite seiner Brust – den Platz für den (Juden-)Stern.
Mit dieser bitterbösen Anekdote leitete 1968 der damals 25-jährige Patrick Modiano seinen ersten Roman La Place de l´Étoile ein, der eine literarische Sensation wurde. Hier war ein junger Schriftsteller, der die phantasmagorische Autobiografie eines französischen Juden während und nach der Schoa vorlegte, wie man sie sich bizarrer kaum vorstellen konnte.
Im Mittelpunkt des Buchs, das erst 2010 auf Deutsch bei Hanser erschien, steht die Gestalt des Raphael Schlemilovitch, der mal als »Kollaborationsjude« und Liebhaber von Eva Braun, mal als »Feld- und Flurjude«, ein anderes Mal als »Snob-Jude« oder als »École-normale-Jude« durch die furiose Romanhandlung halluziniert, um am Ende auf der Couch von Doktor Freud zu landen, der eine »jüdische Neurose« diagnostiziert.
Besatzung Damit wird der Grundakkord von Modianos späterem, mit dem diesjährigen Literaturnobelpreis ausgezeichnetem Erzählwerk angeschlagen, in dem die Zeit von Kollaboration und Besatzung die zentrale Rolle spielt – wie auch in der Biografie des Autors. Die Okkupation, sagt Modiano, sei der Boden, »dem ich entsprungen bin«. 2007 hat er Erinnerungen an seine Jugend vorgelegt (Ein Stammbaum), in denen er aus der Perspektive des Kindes das Milieu seines Aufwachsens schildert.
Die »hübsche, hartherzige« Mutter, 1918 geboren, war eine Flämin, die sich vom Revuegirl zur mäßig erfolgreichen Theater- und Filmschauspielerin hochgearbeitet hatte. Der Vater, Jahrgang 1912, war ein Jude mit italienischen Wurzeln, der nie einen regelrechten Beruf ausübte und krummen Geschäften mit Partnern aus der Halb- und Unterwelt nachging. Modianos Eltern lernten sich während der Okkupationsjahre kennen. 1945 wurde Patrick im Pariser Arbeitervorort Boulogne-Billancourt geboren. Die Eltern trennten sich, liierten sich neu, aber kümmerten sich so gut wie kaum um den Sohn. Das Kind wechselte von einem Internat zum nächsten.
IDENTITÄTSSUCHE In seinem frühen Roman Die Gasse der dunklen Läden 1979 schöpft Modiano aus dieser eigenen Biografie. Guy Roland, ein junger Mann, arbeitet als Assistent in einer Pariser Detektei. Als sein Chef, Monsieur Hutte, eines Tages beschließt, seinen Job aufzugeben und sich an der Cote d’Azur zur Ruhe zu setzen, konzentriert sich Guy auf ein ebenso schwieriges wie ehrgeiziges Projekt, das die Fundamente seiner Existenz und Identität bloßlegen soll.
Vor zehn Jahren hatte er sein Gedächtnis verloren, sein Erinnerungsvermögen speichert nur noch vage Bilder und Hinweise auf eine Herkunft, von der er nicht weiß, ob es sich um die eigene oder die eines anderen handelt. Über ein paar Fotos, die in einer alten Keksschachtel vergilben, über alte Telefon- und Adressbücher aus der Zeit des Krieges tastet er sich in dieser Erinnerungsarbeit an das heran, was er für sein Ego, die Hervorbringung seines Selbst hält.
Die Spuren, die er verfolgt, verlaufen dabei keineswegs gradlinig oder logisch. Guy stößt auf Namen und Personen, auf Erinnerungsgegenstände längst Verstorbener, er trifft Leute, die sich an ihn als Kind zu erinnern meinen – und dann doch in Zweifel geraten. Er unternimmt endlose Wanderungen, Taxifahrten und Reisen zu Orten, die ihm irgendwie vertraut oder von früher her bekannt vorkommen. Und er verirrt sich in dem Vergangenheitsgestrüpp der Kriegsjahre, der Zeit der deutschen Okkupation mit ihren zahlreichen tragischen Emigrantenschicksalen.
Am Ende holt ihn diese Zeit ein, er ist ein Stück von ihr geworden, ein anderer, um 30 Jahre zurückgenommen, vielleicht aber doch derjenige, nach dem er in sich so lange gesucht hat, ohne freilich jemals den schlüssigen Beweis für seine wahre Identität gefunden zu haben.
kollaboration Die Zeit des Krieges, der Besatzung und der Deportationen spielt bei Modiano, der auch das Drehbuch für Louis Malles filmisches Kollaborationsdrama Lacombe, Lucien von 1974 schrieb, immer wieder eine wichtige Rolle. »Ich rechnete oft damit, dass die Menschen, die ich kennen lernte, von einem Augenblick auf den anderen verschwanden«, heißt es in einem seiner Bücher. So geschieht es auch in dem Roman Unfall in der Nacht, der sich um das Verschwinden einer geheimnisvollen Frau rankt, zu der sich der Ich-Erzähler auf geradezu magische Weise hingezogen fühlt.
Modiano eröffnet diese Erzählung mit einem Unfall. Sein Held wird im nächtlichen Paris beim Überqueren der Straße von einem Wagen angefahren und auf das Trottoir geschleudert. Dem Wagen entsteigt die mysteriöse Unbekannte, die ihn ins Krankenhaus begleitet – und dann spurlos verschwindet. Wenn sie am Ende wieder auftaucht und sich zwischen beiden so etwas wie der Beginn einer Liebesbeziehung andeutet, dann haben wir eine im wahrsten Sinne des Wortes erlesene Erkundungsreise hinter uns, für die das Paris der Nachkriegszeit mit all seiner verschlungenen Topografie das Terrain gibt.
Auf dem Leben des Ich-Erzählers lastet die verschwommene Erinnerung an den Vater, der ihn verlassen hat. Wegen einer Frau? Vielleicht wegen jener, die ihn im nächtlichen Paris angefahren hat? Und welche Querverbindungen bestehen zwischen dem Vater und dem obskuren »Büro Otto«? Der Leser kann nur vermuten, dass es sich dabei um die Dienststelle von Otto Abetz handelt, der während der deutschen Besatzung in Paris als Hitlers Botschafter maßgeblich die Fäden zur Pariser Kollaborations-Schickeria knüpfte.
Porträt Modiano arbeitet sich vor, durch Porträts und leere Straßen und Plätze, durch Häuser mit Unbekannten, durch Namen, Jahreszahlen, Erinnerungen an nichts.
Das meiste bleibt im Dunkeln einer unscharfen Erinnerung und wird gerade deswegen zum Erhellenden. »In manchen Nächten«, heißt es im Buch, »fragte ich mich, ob dieses Suchen einen Sinn haben konnte und warum ich damit begonnen hatte …« Am Ende bleibt nur die Gewissheit, dass jeder Versuch, die Erinnerung einzuholen, identisch ist mit einem ewigen Zuspätkommen.