Nein, selbstverständlich ist es nicht die Sache mit Lion Feuchtwangers Promiskuität, die bei der Lektüre dieses Tagebuchs irritiert. Es ist auch nicht die Verblüffung über die Ressourcen einer Literaturwissenschaft, die in einer Expertengruppe ein mehr als 600 Seiten und die Jahre von 1906 bis 1940 umfassendes Tagebuch penibel ediert und mit einem Anmerkungsteil sowie einem Werk- und Personenregister versehen hat, das zusätzliche 150 Seiten fordert.
Dabei sind Feuchtwangers kalifornische Exiljahre bis zu seinem Tod im Jahr 1958 noch nicht einmal erfasst; man geht davon aus, dass diese Notizen nach dem Tod seiner Witwe Marta in den Besitz der langjährigen Sekretärin Hilde Waldo übergegangen sind und von dieser entsorgt wurden. »Rettete Waldo lediglich die Tagebücher aus der Zeit vor dem kalifornischen Exil, vernichtete aber jene aus den späteren Jahren, weil sie selbst darin vorkam? Sie hatte wohl eine Affäre mit Lion Feuchtwanger.«
FLOSKELN Was aufgefunden und aus der von Feuchtwanger verwendeten »Gabelsberger-Kurzschrift« entziffert wurde, musste freilich gestrafft werden: »Gekürzt wurden vor allem Äußerungen, die sich über die Jahre nahezu täglich wiederholten, sowie phrasenhafte Bemerkungen über Personen und Unterhaltungen wie ›fad, mittel, interessant‹ oder floskelhafte Notate über seine Arbeit.«
Vor allem aber entpuppte sich die Libido des Romanciers als philologische Herausforderung: »Von rund 750 erwähnten ›gevögelt‹ finden rund 100 Aufnahme, von 650 ›gehurt‹ 40.« Gestreckt auf 34 Jahre, relativiert sich freilich die vermeintliche Überzahl. Es lässt jedenfalls tief blicken, wenn gegenwärtige Rezensenten gerade auf diesen Aspekt fokussieren und »Verruchtheit« konstatieren, wo es sich doch eher um kanzlistenhafte Aufzählungshuberei handelt.
Die Libido des Romanciers entpuppt sich als philologische Herausforderung.
»12. April 1917: Mit der Kellnerin Berta von der Torggelstube gehurt. 1. Mai: Mit Marta sehr gehurt. Herrliches Wetter. Ich fühle mich sehr behaglich.«
KABBALAH Die Zäsuren der Epoche erscheinen dagegen eher wie fernes Wetterleuchten. Nur ganz selten, wie in jener Kürzest-Notiz vom letzten Kriegsfrühjahr 1917, das der magenkranke Feuchtwanger in Furcht vor erneuter Einberufung verbringt, scheint jene Verknüpfung aus Privat- und Zeitgeschichte auf, die seine Romane noch heute so eminent lesbar hält: »Wieder einmal auf dem Wehramt. In der Staatsbibliothek über Kabbalah geschmökert.«
Viele Jahre später, bereits im Exil im südfranzösischen Sanary-sur-Mer, heißt es: »11. Januar 1935: Marta liest das 2. Buch des Juden von Rom. Macht berechtigte Einwände, die mir Arbeit machen. Marta gevögelt.« Auf den beigefügten Fotografien sehen wir eine großgewachsene, elegante Frau voller Selbstbewusstsein, während der 1,65 große Feuchtwanger tatsächlich als jener »zerknitterte, kleine Mann« erscheint, als den ihn sein Kollege und Mit-Exilant Robert Neumann maliziös beschrieben hat. Umso mehr, als die betreffenden Tagebuch-Einträge eine beträchtliche hausväterliche Bräsigkeit verraten: »6. Juli 1936: Abends mit Eva. Sehr gevögelt. Wie ich nach Hause komme, erwartet mich Marta mit Geburtstagsgeschenk. Nett.«
Gewiss wäre es nachgetragene Arroganz, sich die beiden emanzipierten Frauen (von anderen Gespielinnen zu schweigen) lediglich als Opfer vorzustellen. Im Gegenteil: Zeitgenossen beschreiben sie als ebenso starke Persönlichkeiten wie Feuchtwangers weibliche Romanfiguren, erinnert sei hier nur an die Romane Jefta und seine Tochter oder Die Jüdin von Toledo.
VÖGELN Wäre es da nicht lohnender gewesen, eine preiswerte Neu-Edition dieser Bücher zu wagen, anstatt aufwendig Notizen zu rekonstruieren, die vor allem die vokabelarme Selbstbespiegelung und das Name-dropping eines Erfolgsautors präsentieren, dem dank seiner Bekanntschaft mit Eleanor Roosevelt schließlich die riskante Flucht aus dem nazi-besetzten Europa glückt? In seinem erschütternden Zeugenbericht Unholdes Frankreich kann man über diese Zeit mit Sicherheit Präziseres erfahren.
Das wirkliche Ärgernis aber sind Feuchtwangers Notizen seiner Moskaureise.
Das wirkliche Ärgernis, das Feuchtwangers Bild nachhaltig erschüttert, aber sind die Notizen seiner Moskaureise, in der er als Zuschauer des stalinistischen Schauprozesses gegen den Altkommunisten Karl Radek fungierte. War seine danach schnell hingeworfene Rechtfertigungsschrift Moskau 1937 bereits der ethische Tiefpunkt seines Schaffens, wird dies im Tagebuch sogar noch unterboten. »25.Januar 1937: In der Frühe mit Eva gevögelt. Nicht zum Prozeß gegangen. Meine Äußerungen zum Prozeß erscheinen groß in der Sowjetpresse ... Schnupfen. 26.1.: Starker Schnupfen. Vormittags im Prozeß. Ziemlich fad. 27.1.: Schlechte Nacht gehabt. Zum Prozeß.«
Danach wird Karl Radek aufgrund erzwungener Selbstbezichtigungen verurteilt (und drei Jahre später von Mithäftlingen in einem Lager ermordet), während Feuchtwangers Nase aufhört zu tropfen, seine Visite bei Stalin in angenehmer Erinnerung bleibt und ein Zug via Prag nach Paris bestiegen wird.
OBSZÖN Auch dort aber verbleibt selbst in Gespräch mit dem antitotalitären Publizisten Leopold Schwarzschild das Reflexionsniveau erschreckend niedrig: »17. Februar 1937: Unergiebige Unterhaltung über Rußland. Dann in eine Revue und in ein Bordell. Ganz nett.«
Die wahren Obszönitäten liegen jedenfalls jenseits des Sex. Wie gut, dass zumindest Lion Feuchtwangers große Romane existieren. Oder wie die von Stalin dahingemetzelten Altlinken, denen der Autor seine Solidarität versagte, es ausgedrückt hätten: trotz alledem und alledem und alledem.
Lion Feuchtwanger: »Ein möglichst intensives Leben. Die Tagebücher«. Aufbau, Berlin 2018, 640 S., 26 €