Vielleicht sollte man die Lebensgeschichte von Tzili Kraus gar nicht erzählen. Sie hatte ein grausames, glanzloses Schicksal, und wenn sich nicht alles tatsächlich so ereignet hätte, könnte man Zweifel hegen, ob wir in der Lage wären, es zu erfinden. Da es sich aber ereignet hat, besteht kein Grund, es länger zu verbergen. Fangen wir also gleich an.»
Das Mädchen Tzili, verwaistes Kind in den Wäldern Osteuropas und Protagonistin des gleichnamigen Romans von 1982, ist nur eine der unzähligen Figuren, in die sich Aharon Appelfeld im Laufe seines Schriftstellerlebens verwandelt hat. Geboren 1932 in der Nähe des damaligen Czernowitz, starb er am Donnerstag vergangener Woche in Petach Tikwa. In Anspielung auf Flaubert hätte er sagen können: «Tzili, c’est moi.» Ein Teil seiner selbst wie der Junge Erwin, der ebenfalls zahlreiche Romane bevölkert – unter diesem Namen war Appelfeld, Kind einer bildungsbürgerlichen Familie, einst zur Welt gekommen.
sanftmütig Als Chronist des gemordeten und untergegangenen osteuropäischen Judentums und seiner (Seelen-)Landlandschaften war er das, was man allzu gern einen «Jahrhundertzeugen» nennt. Der sanftmütige Mann mit den freundlich-wachen Augen unter der jungenhaften Schirmmütze, die er bis ins hohe Alter hinein trug, hätte jedoch einen solchen Podestnamen verschmäht – so wie ihm alles suspekt war, was mit pompöser Rhetorik vom Konkreten wegflutschte.
«Es ist das Schicksal von Abstraktionen», schrieb Appelfeld, «dass sie dich für einen Moment packen und sich dann verflüchtigen. Nur Wörter, die Bilder auslösen, merkst du dir.» Als er acht Jahre alt war, zerbrach die säkular-religiös ausbalancierte Idylle seiner Kindheit; die Mutter wurde von rumänischen Faschisten erschossen, er selbst wurde während der Deportation von seinem Vater getrennt und überlebte den Krieg in den ukrainischen Wäldern als angeblich «arisches» Kind, das vergessen musste, um zu überleben.
Als der Autor dieser Zeilen Aharon Appelfeld vergangenen Herbst in seiner lichten, von Bücherregalen gesäumten Wohnung in Rehavia besuchte, saß da ein 85-jähriger Autor von knapp 50 auf Hebräisch geschriebenen und in nahezu alle Weltsprachen übersetzten Romanen, die jene damalige Zeit wieder und wieder umkreisen. Weshalb aber ist keines dieser Bücher geschwätzig und redundant, sondern berührend sensualistisch, getragen vom Vertrauen, dass Vergangenes eben sehr wohl lebendig erzählbar ist? Wie entstand ein weltweit tatsächlich einmaliges Werk, in dem sich literarische «Naive Kunst» und luzide Reflexion begegnen, eine dem Schicksal abgerungene Freude am autobiografisch grundierten Fabulieren, das sich freilich immer wieder selbst ins Wort fällt und den Leser daran hindert, in purer Lektüre-Behaglichkeit zu versinken?
stil «Ich habe zeitlebens versucht», sagte Aharon Appelfeld, «meinen Stil von Floskeln freizuhalten und auch auf Botschaften zu verzichten. Prosa ist da hilfreicher als Poesie, mit der ich einst in Israel begonnen hatte. Denn zu viel Reden über Gefühle führt uns in ein Labyrinth der Sentimentalitäten, zu abgedroschenen Phrasen. Ein Gefühl aber, das aus einer Tat herrührt, ist klar wie Kristall.»
Der oben erwähnte Roman-Satz «Fangen wir also gleich an» beschrieb dabei nicht nur ein komplexes ästhetisches Verfahren – inklusive anwesendem oder abwesendem Ich-Erzähler –, sondern auch einen Akt des Widerstandes. Denn wie und in welcher Sprache sollte sich einer erinnern, der 1946 schließlich aus einem Flüchtlingsschiff in Haifa an Land gewankt, über Jahre hinweg nicht zur Schule gegangen war und das Deutsch der Eltern, das Jiddisch und Rumänisch der Großeltern vergessen hatte? Polnisch, Ukrainisch und Russisch (die letzten Monate des Krieges überlebte er als Küchenjunge der Roten Armee) hatte er lediglich in Fetzen aufgeschnappt.
«Mit achtzehn Jahren konnte ich noch immer nicht richtig schreiben. Bei der Musterung in Afula füllte ich ein Formular aus, und der Diensthabende verbesserte mir die Rechtschreibfehler.» Später würde Aharon Appelfeld in seinem Roman Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen (2013) diese israelischen Anfangsjahre als eine Zeit des Dämmerns beschreiben, eines vorerst noch somnambulen Wiedererkennens seiner selbst. «Alles, was mir passierte, hat sich in den Zellen meines Körpers eingeprägt. Nicht in meinem Gedächtnis.»
Czernowitz Zu seinem und unserem Glück traf er dann, befremdet vom quasi-sozialistischen Aufbau-Elan der israelischen Literatur der 50er-Jahre, auf Samuel Joseph Agnon, den Nobelpreisträger, der ihm bescheinigte, literarischen Stoff für gleich drei Schriftstellerleben in sich zu tragen. «Es war, als sagte Agnon zu mir: ›Du wurdest aus deiner Stadt und den Dörfern deiner Vorfahren vertrieben, und statt von ihnen zu lernen, hast du von den Wäldern gelernt.‹ Dann nannte er mir viele verborgene Einzelheiten von Czernowitz, als wollte er mir gleichsam – kurz vor seinem Tod – einen Vorrat für lange Zeit mitgeben.»
Die Quintessenz all der danach entstandenen Romane ist freilich keine folkloristische Nostalgie, sondern das Erschrecken über das Gefährdete menschlichen Daseins und die Brüche, die dem vermeintlich Stabilen permanent innewohnen. Der illusionslose Menschenfreund, den Philip Roth in einem seiner Romane sogar mit Klarnamen auftreten ließ (wir stellen ihn uns indessen eher als Seelenverwandten von Albert Camus und Czeslaw Milosz vor) hatte dennoch – oder gerade deshalb – kein Gefallen an generalisierender Apokalyptik.
Im Gegenteil. «Das Fundament», hatte Aharon Appelfeld in Rehavia zum Abschied gesagt und ermutigend gelächelt, «ist immer in Gefahr, und die Menschen sind schwach. Doch nur ein Mensch, der seine Schwächen kennt, kann sie manchmal überwinden. Nein, nicht alles ist düster.»