Trauer

Ihre Stimme wird uns allen fehlen

»Die Jugend mag solche Musik? Okay, probieren wir es!«: Esther Bejarano (1924–2021) Foto: picture alliance/dpa

Ist nicht alles über sie geschrieben, gesagt, benannt und bekannt? Selbst den Großmedien wie Tagesschau oder »Spiegel« war der Tod der kleinen alten Dame längere Nachrufe als Aufmacher wert. Quer durch Facebook, Twitter und Ins­tagram ploppte ihr Bild in den Timelines auf. Esther Bejarano gehörte, so schien es, zur hinreichend beschworenen und oft bemühten »deutsch-jüdischen Versöhnung« in Deutschland.

Es war leicht, sie zu mögen: ihr Lachen, ihre Musik, ihren Humor, ihren Kampf gegen das Vergessen, ihre Neugierde, noch im hohen Alter Rap zu probieren, ihr phänomenales Gedächtnis. Eine Schoa-Überlebende, die das Leben offensiv umarmte und liebte, so jemanden mögen die Leute im Land der Täter.

kämpferisch Esther Bejarano ließ sich fein einfügen in die Passepartouts der Generationen und Weltanschauungen: Den Jungen erschien sie jung, den Alten genehm und vorbildlich zugleich, den Bildungsbürgern musikalisch, den Rappern cool, den Wortmenschen gewandt, den Linken kämpferisch, den Pazifisten aufrecht. Aber reicht das, um 96 Jahre zu fassen und zu begreifen, was Esther Bejarano überleben und nicht zugrunde gehen ließ an Erinnerungen, die grausamer nicht sein könnten?

Resilienz ist ein Modewort der modernen Psychotherapie. Es möchte die innere Kraft, andauerndem Schrecken zu trotzen und nicht zu zerbrechen, in einen Begriff setzen. Er ist zu technisiert. Hingegen sind es die kleinen Begebenheiten und Geschichten, die schönen und die schrecklichen, die anekdotischen und die traumatischen, die einen Menschen in all seinem Unglück und Glück und mit allen Widersprüchen noch einmal und für die Nachwelt aufleben lassen. Zwei ältere Schwestern hatte Esther. Oberkantor Rudolf Loewy aus Berlin und seine Frau Margarete lebten erst im Saarland, später in Ulm, zum Schluss zwangsversetzt in Breslau. Das Geld blieb knapp mit vier Kindern. Esther war nicht nur die Jüngste, sondern auch die Kleinste. Also arbeitete Handarbeitslehrerin Margarete die Kleider ihrer größeren Töchter Ruth und Tosca fürs Nesthäkchen Esther um. Zum Maßnehmen, zum Abstecken der Säume und Nähte musste Esther stillstehen. Das konnte sie nicht, sie musste immer lachen, wenn die Mutter an ihr in einen Stoff griff, die Nadel setzte.

Es war leicht, sie zu mögen: ihr Lachen, ihre Musik, ihren Kampf gegen das Vergessen.

»Das kitzelt«, rief sie. Vergeblich versuchte Margarete, ihre Tochter wenigstens ein paar Minuten um der Schneiderkunst willen zu beruhigen. Esther lachte und lachte, die Borten gerieten schief, was wiederum die Mutter köstlich amüsierte, zum Schluss lachten beide gemeinsam. Immer wieder. Bei jeder Anprobe. Schiefe Nähte hielten das Kleid zusammen. Das Lachen darüber die Seelen.

Oberkantor Loewy besaß eine so wunderschöne Stimme, dass er sogar in Opernproduktionen einspringen konnte. Lohengrin, Wagner. Welche Rolle er dort sang? Egal. Musik beherrschte das Loewy-Haus und die Familie, eine Tochter trug den Namen Tosca. Die vielen Besucher brachten ihre Instrumente mit, Esther saß am Klavier. Musik hielt alle zusammen, auch noch nach 1933.

Auschwitz im Sommer 1943. Vier Wochen lang musste die 18-jährige Esther zwölf Stunden täglich schwere Steine vom linken Rand eines Feldes zum rechten schleppen. Am nächsten Tag vom rechten zum linken. Hin und her. Sinnlos. Sie wusste, sie würde die Schinderei nicht lange überleben. Das von der SS befohlene Mädchenorchester suchte Musikerinnen. Ein Klavier existierte nicht. Die Leiterin Zofia Czajkowska gab ihr ein Instrument, das Esther noch nie gespielt hatte. Die Tastatur des Akkordeons auf der rechten Seite kannte sie, aber links die Knöpfe? Einer hatte eine Delle, das konnte nur C-Dur in der Bassbegleitung sein. Von dort waren die anderen Tonarten und Akkorde schnell zu greifen. Sie bestand die Prüfung mit dem Schlager »Du hast Glück bei den Frau’n, Bel Ami«. Ein halbes Jahr musizieren in Auschwitz. Das Leben ist gerettet. Und die Seele?

eltern Esther Bejarano wusste in Auschwitz nichts vom Mord an ihren Eltern in Litauen. Sie erfuhr erst 2016, dass Schwester Ruth nicht an der Schweizer Grenze erschossen, sondern in Auschwitz vergast wurde. Sie spielte ein halbes Jahr im Vernichtungslager um ihr Leben Akkordeon und blieb dabei ganz wach für die Ungeheuerlichkeit des Ortes und des Geschehens. Das Orchester spielte morgens zum Abmarsch der Häftlinge in die umliegenden Fabriken, abends zu deren Rückkehr.

Diese entkräfteten Menschen, erinnerte sie sich, es war so schrecklich. Noch furchtbarer empfand sie die Empfänge der Züge an den »jüdischen Gleisen«, nur wenige Meter entfernt von den Gaskammern. Wenn die erschöpften Menschen aus den Waggons stolperten, glaubten sie, gerettet zu sein. Musik empfing sie. Sie winkten. Alte, Gebrechliche, Kranke, Kinder und Schwangere sowie Frauen über 45 »durften« in Lastwagen steigen. Die Opfer waren beruhigt, die Häftlingsmusikerinnen hingegen wussten, wohin die Lkws fuhren. Die Musik hat Esther gerettet, Musik führte die anderen in den Tod. Mit diesem Widerspruch weiter zu leben, mit Musik zu leben, es ist unvorstellbar, welch eine Kraft.

Die Musik hat Esther in Auschwitz gerettet. Musik führte die anderen in den Tod.

Gerettet hat Esther die Musik, gerettet hat sie ausgerechnet auch die »Rassenlehre« der Nazis. Eine Großmutter war christlich, 80 Frauen mit »Mischlingsblut« durften sich melden und wurden zum Arbeitseinsatz nach Ravensbrück transportiert. Die Qualen dort waren für Esther noch schlimmer als in Auschwitz, aber sie hat überleben und auf dem Todesmarsch fliehen können. Auch, weil sie dank Freundinnen und deren geheimen Radiogeräten wusste, wo die Rote Armee steht. Als Amerikaner und Russen sich in Lübz umarmten, ein Hitlerfoto anzündeten und um das Feuer tanzten, spielte Esther wieder Akkordeon.

israel Tosca, ihre Schwester, lebte in Israel. Esther zog zu ihr, dann in einen Kibbuz, sie nahm Gesangsunterricht, lernte ihren Mann kennen. Beide verband Liebe und eine kommunistische Weltanschauung. Ein Sohn und eine Tochter kamen zur Welt. Nissim Bejarano wollte als Pazifist nicht in den Krieg ziehen, keine Waffe tragen, Esther störte der Umgang mit Palästinensern.

Sie erklärte später in Interviews, Ungerechtigkeit nicht ertragen zu können. In aller Ehrlichkeit gab sie zu, dass neben der Muttersprache auch die »Wiedergutmachung« ein Grund für die weitgehend mittellose Familie war, 1960 nach Deutschland zu ziehen. In Hamburg hat sie eine Boutique eröffnet. Eines Tages baute die NPD direkt vor ihrem Laden einen Informationsstand auf. Esther Bejarano protestierte, als die Polizei die Nazis vor den Gegendemonstranten schützte. Ein NPD-Mann rief, die Frau hätte Auschwitz überlebt. Alle Auschwitz-Insassen seien Verbrecher gewesen. Der Polizist solle sie ins Gefängnis stecken.

ambivalenzen Esther beschloss, aktiv zu werden im Kampf gegen einen drohenden Faschismus. Sie begann, ihr Leben zu dokumentieren, als Musikerin aufzutreten, in Schulen an die Schoa zu erinnern. 1986 gründete sie das Auschwitz-Komitee der Bundesrepublik Deutschland, das sich jeden Samstag in ihrer Wohnung traf. Leider kein Ruhmesblatt: Sie war Mitglied der DKP, ließ sich aber im Wahlkampf nicht als Kandidatin aufstellen. Ebenfalls kritisch: Sie hat später mit der israelfeindlichen BDS-Bewegung sympathisiert. Dies müssen wir so stehen lassen. Ambivalenzen, mitunter wenig nachvollziehbare, begleiten das Leben jedes Menschen.

Vor zwölf Jahren klingelte bei Bejarano das Telefon. Kutlu Yurtseven von der Gruppe Microphone Mafia fragte, ob sie gemeinsam Musik machen wollten? Esther schwieg lange. Kutlu dachte schon, sie hätte aufgelegt. Nein, erklärte Esther, sie wolle nur nicht mit der Mafia reden oder musizieren. »Wie? Mafia ist der Name der Band? So ein blöder Name! Aber okay. Die Jugend mag das? Probieren wir es.« Und so wurde Esther Bejarano mit 84 Jahren Sängerin in einer multikulturellen Hip-Hop-Band. Mit 87 hat sie sich ein neues Auto gekauft. Mit 95 hat sie stundenlange Radiointerviews klar und wach überstanden. Noch vor wenigen Wochen hat sie in Brandenburg ein Konzert gegeben. Und immer, bei jeder Gelegenheit, hat sie an die Toten der Schoa erinnert.
Jetzt ist Esther Bejarano gestorben.

Baruch Dayan HaEmet. Ein großes Leben ist vergangen. Es war schön, es war wichtig, es war großartig, sie erlebt und gekannt zu haben.

Nachruf

Keine halben Sachen

Die langjährige Nahost-Korrespondentin der WELT, Christine Kensche, ist gestorben. Ein persönlicher Nachruf auf eine talentierte Reporterin und einen besonderen Menschen

von Silke Mülherr  10.01.2025

Nachruf

Eine unabhängige Beobachterin mit Herzensbildung

WELT-Chefredakteur Jan Philipp Burgard nimmt Abschied von Israel-Korrespondentin Christine Kensche

von Jan Philipp Burgard  10.01.2025

Kino

Road-Movie der besonderen Art

»A Real Pain« handelt von zwei Amerikanern, die auf den Spuren ihrer verstorbenen Großmutter durch Polen reisen und historische Stätten jüdischen Lebens besuchen

von Irene Genhart  10.01.2025

USA

Mel Gibson: »Mein Zuhause sah aus wie Dresden«

Zahlreiche Stars sind von der gewaltigen Feuerkatastrophe in Kalifornien betroffen. Auch Mel Gibsons Haus fiel den Flammen zum Opfer. Nach antisemitischen Einlassungen in der Vergangenheit irritiert er nun einmal mehr mit unpassenden Vergleichen

 10.01.2025

Österreich

Schauspiel-Legende Otto Schenk ist tot

Der Darsteller, Intendant, Autor und Regisseur mit jüdischem Familienhintergrund galt als spitzbübischer Spaßmacher und zugleich tiefgründig Denkender. Er war ein gefragter Künstler - auch in Deutschland und in den USA

von Matthias Röder  10.01.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Katrin Richter  10.01.2025 Aktualisiert

Kultur

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 9. bis zum 18. Januar

 09.01.2025

Film

Wie naiv war ich?

Die Schauspielerin Adriana Altaras ist für eine Rolle nach Jordanien geflogen. Sie spielte eine Jüdin, die zusammen mit einem Palästinenser in Ramallah lebt. Bericht von einem verstörenden Dreh

von Adriana Altaras  09.01.2025

Sehen!

»Shikun«

In Amos Gitais neuem Film bebt der geschichtsträchtige Beton zwischen gestern und heute

von Jens Balkenborg  09.01.2025