Kurz sei die Frage vorgeschoben, wer so eine Anthologie von »16 jüdischen Erzählungen« kaufen wird. Darüber hat sich Rowohlt, der herausgebende Verlag, ganz sicher seine Gedanken gemacht. Auch lässt sich von ein paar Diskussionsrunden ausgehen, bis dann der frech-ironische Titel »Wir schon wieder« gefunden war, einer der glücklicherweise ganz ohne »Schlamassel«, »Schmonzes« und Ähnliches ausgekommen ist.
Wir schon wieder versammelt Texte von auf Deutsch schreibenden Autoren. Viele davon sind speziell für die Sammlung entstanden, einige sehr direkt als Reaktion auf den 7. Oktober 2023 zu lesen. Die Anthologie ist druckfrisch und doch in ihrer Gänze gefühlt schon wieder von gestern, vorgestern. Denn auch das hat der 7. Oktober, das Massaker der Hamas, mit sich gebracht: Die Zeit vergeht anders. Nichts ist vorbei, nichts stabil. Auch nicht unsere Worte, auch nicht unsere Texte.
Rowohlt war an die Autorin Dana von Suffrin (Otto, Nochmal von vorne) herangetreten mit der Frage, ob sie die Sache als Herausgeberin übernehmen wolle. Von Suffrin sagte zu – und steuerte dann auch gleich einen eigenen Text bei.
Idee und Erscheinungstermin
Die Zeit zwischen Idee und angepeiltem Erscheinungstermin war nicht eben lang, was kleine editorische Unfeinheiten erklären könnte. Die Angaben zu den Autoren im Anhang fallen in Art und Länge sehr uneinheitlich aus. Informationen darüber, ob einzelne Texte schon einmal irgendwo erschienen sind, wären direkt unter dem jeweiligen Beitrag schön gewesen. (Elfriede Jelineks Essay »Kein Einer und kein Andrer mehr« war bereits im Oktober 2023 auf deren Homepage zu lesen gewesen, Dmitrij Kapitelmans Beitrag »Die 13 toten Nachbarinnen« war – vor dem 7. Oktober – in der »Zeit« erschienen, für die Anthologie hat er ihn aktualisiert.)
Auch hätte bei diesem oder jenem Text uns Neugierige interessiert, ob einem da ein angepeiltes literarisches Projekt präsentiert worden ist. (Dürfen wir zum Beispiel von Dana Vowinckels schlau verdrehtem Prosastück »Was hättest du getan?« Weiteres über den Kunsthändler Curt Valentin erwarten?)
Kleinigkeiten, am Ende Zumutungen, wenn’s um anderes geht. Zum Beispiel um deutlich ausgesprochene Reaktionen, nach all den (kultur)stummen Wochen, Monaten, auch darum, Stimmen einen zusätzlichen Raum zu geben. Und vielleicht hat ja die beim Durchlesen nach allen Seiten spürbare Offenheit, das Nichtfestgelegte – »den Autoren haben wir das Genre der Texte freigestellt«, so von Suffrin – auch etwas Gemäßes. Die Anthologie ist eine Reaktion.
Wird der 7. Oktober in einem Text nicht ausdrücklich erwähnt, ist er erwähnt, weil er nicht erwähnt ist. Aber natürlich schwingt auch der russische Überfall auf die Ukraine von vor zwei Jahren mit, zumal nicht wenige Autoren eine enge familiäre wie sprachliche Verbindung sowohl zu Russland als auch zur Ukraine haben. (Die Zusammenhänge zwischen den Kriegsregionen im Nahen Osten und in der Ukraine beleuchtet Yevgeniy Breyger so dringlich wie kundig in seinem politischen Essay »Nicht mit mir«.)
Sprache als Medium, das Welten mittransportiert
Das Thema Sprache als Medium, das Welten mittransportiert, drängt sich natürlich für Schreibende auf (und ist in den Texten von Marina Frenk »Ein Versuch, sich zu verabschieden« wie in Slata Roschals »Warum denn ausgerechnet Deutschland« einfühlsam zu spüren).
Und so kann die Frage, wer in dieser hochemotionalen, frontenreichen Zeit so ein Buch kaufen könnte, tatsächlich direkt zu Zeitgenossen führen, die fast motivgleich in einigen der Texte ihren Auftritt haben (konzentriert in Lena Goreliks datumslosen »Notizen aus Zeiten«). Sind es die »Philosemiten«, ein unglaublich schillerndes, schwer fassbares, irritierendes »Phänomen«? Sind es schreibende Kollegen, mit denen man sich zusammenschloss und zurechtzurücken versuchte? Sind es Kulturschaffende, die sich nervös nach allen Seiten umsehen, um ihren Kompass zu orten, sind es (die) Nichtjuden, sind es (die) Juden, zwischen die sich wieder größere Distanzen schieben?
16 gegenwärtige deutschsprachige Autoren steuerten ihre Texte bei (die Ausnahme: das schelmische wie klar analysierende »Dankeswort an die Antisemiten« von Ljudmila Ulitzkaja wurde aus dem Russischen übersetzt). »Erzählungen« sind es nur insofern, als dass jede Textart immer irgendwie etwas erzählt. Geordnet sind sie alphabetisch nach den Namen der Autoren, sind Essays, Kurzprosa, politische Statements, Satire (samt obligatorischem aufgeklebten Hitlerbärtchen wie in Joe Fleischs wahnwitzigem Text) und ein Brief.
Wo sich Schreibende selbst verorten, sich verortet sehen und verortet werden
Der stammt von Maxim Biller, der dank dieses ins Buch kommt, in das er nicht wollte. Biller hatte den Brief an Dana von Suffrin geschrieben, lässt in ihm seinen Gedankengängen darüber folgen, weshalb er »ablehnte«, macht den ganz großen Topf auf zur Frage, wo sich Schreibende selbst verorten, sich verortet sehen und verortet werden: »Warum nicht signalisieren, dass wir hier zu Hause sind, dass wir ›deutsch‹ sind, weil wir Deutsch schreiben, und nicht in erster Linie ›jüdisch‹, also nicht im kosmopolitischen Reich des wandernden Juden herumirren?«.
Die Autoren dieser Anthologie sorgen für Vielfalt innerhalb der (jüdischen) Literatur, sie stehen für die Diversität jüdischen Lebens (unerwähnt blieben Adriana Altaras, Zelda Biller, Olga Mannheimer, Eva Menasse, Linda Rachel Sabiers). Ein Buch für die, die nicht müde werden, unterschiedliche Stimmen hören zu wollen.
Dana von Suffrin (Hrsg.): »Wir schon wieder. 16 jüdische Erzählungen«. Rowohlt, Berlin 2024, 240 S., 22 €